Hamburg. Amelie Fechner war Juristin, dann fand sie ihre eigentliche Profession: Sie schreibt Gedichte für alle. Man kann sie sogar verschicken.

„Postkartenidyll“ ist so ein Wort, das brutal gut zu Blankenese passt. Man mag ihn ja kaum denken, diesen Begriff, weil er so verbraucht ist und das ewig hübsche Blankenese das doch aber bitte nicht sein soll. Man könnte wiederum trotzdem sagen: Blankenese ist für die Beschreibung „Postkartenidyll“ erfunden worden.

Vielleicht kam Amelie Fechner deswegen auf die Idee, ihre Gedichte auf Postkarten zu drucken. Oder es war ganz anders, und die Häuser-am-Hang-breiter-Strom-Hardcore-Romantik hatte gar nichts mit dieser Entscheidung zu tun. Die heute 51-Jährige wollte halt einst, es ist jetzt fast zehn Jahre her, nach ihren gelegentlichen Lesungen den Zuhörerinnen und Zuhörern etwas mitgeben. Und deswegen ließ sie ihre Poeme in minimalistischer, aber optisch ansprechender Form auf Postkarten drucken.

Lyrik zum Verschicken aus Hamburg

Lyrik zum Verschicken, zum Verschenken. Ein gutes Konzept. So gut, dass Fechner, deren Weggaben anfänglich gratis waren, nun schon lange Geld mit ihnen verdient. Sie hat mehr als 30 Abnehmer in ganz Deutschland; Buchhandlungen, Einrichtungsläden, Concept Stores. Amelie Fechner sagt: „Postkarten werden verschickt und verschenkt, so musste ich kaum etwas tun, um neue Kunden zu finden.“

Verraten wir nun mal, wo genau sie das sagt, und kommen damit auf Blankenese zurück: Amelie Fechner sitzt auf einer kleinen Hinterhaus-Terrasse, so kann man das wohl nennen. Ein lauschiges, schmal bemessenes Plätzchen im stillen Winkel der großen Stadt. Fechners Schreibstube ist in einem Gemeinschaftsbüro, die Grafikerin, die ihre Postkarten gestaltet, sitzt einen Stock höher. Dieses Gemeinschaftsbüro befindet sich in einem in den Berg gedrückten Gebäude, das nach vorne hinaus an der Blankeneser Hauptstraße liegt.

Amelie Fechner schreibt Gedichte in Hamburg

Hier, in diesem ehemaligen Fischerdorf, ist Hamburg vergleichsweise eng. Aber die Seele spannt doch weit ihre Flügel aus, beziehungsweise: Man kann sich hier ausleben. Das ist jedenfalls das, was Amelie Fechner tut. Sie schreibt Gedichte. Dann verkauft sie die. In ihrem Fall ist das eine Geschichte der Selbstbefreiung, wir kommen später darauf zurück.

Gibt es einen schöneren Arbeitsplatz als im Treppenviertel, Postkartenidyll hin, Hamburgkitsch her? Wahrscheinlich nicht. Fechner selbst hält sich nicht gar zu lange mit lokalen Überlegungen auf, obwohl sie diese keinesfalls aussparen will. Deswegen erzählt sie zum Beispiel, dass sie sich auf ganz neue Weise mit den Norddeutschen verbunden fühlt, seit sie, die gebürtige Nordrhein-Westfälin, weiß, dass ihre Gedichte auch in Kiel gelesen und verschenkt werden. „Ich weiß jetzt“, sagt die Frau, die von sich sagt, sie sei schüchtern, „dass die Menschen in Schleswig-Holstein vielleicht manchmal etwas zugeknöpft wirken, aber dahinter verbergen sich oft tiefe Empfindungen“.

„Treppenviertel“ schaffte es in Hamburg-Lyrik-Anthologie

Ihr Gedicht „Treppenviertel“ schaffte es kürzlich in die Hamburg-Lyrik-Anthologie „Aus den Wolken fallen die Heringe“. „Auch sind die Wege hier nicht eben/die Häuser schief, zum Teil sehr alt/die Winter lang und manchmal kalt/so fragt mich manch ein Treppengast/Ist das Leben hier keine Last?/nein, ruf ich, ich find es herrlich/und insgesamt nicht zu beschwerlich“, heißt es da. Ehrlich, man hätte nicht gedacht, dass Blankeneser auch nur einen Gedanken daran verschwendeten, irgendwo anders als im Hanseatenparadies zu leben; aber die Zeilen müssen wohl das Lebensgefühl ziemlich gut treffen derer da im Hamburger Westen.

Amelie Fechner hat das Talent, formal keineswegs anspruchslose und dabei doch vor allem zugängliche Verse über allgemeingültige Gefühle oder Erfahrungen zu schreiben. Deshalb sind Gedichte wie „Schwestern“ („es gibt kaum eine/mit der Du so viel/gespielt und gestritten/gefühlt und gelitten/konkurriert, debattiert/über die Du gestöhnt/und mit der Du/Dich wieder und/wieder versöhnt hast“) und „Sommer“ („das Quipsch und Quapsch/von nackten Füßen in Sandalen/gibt diesem Sommertag den Beat/die Sonne plant nichts weiter/als zu strahlen/und ich strahl automatisch mit“) mehr als 10.000-mal als Postkarte gekauft worden.

Fechner studierte Jura in Hamburg

Man braucht, sagt Fechner, nicht Literaturwissenschaft studiert zu haben, um ihre Gedichte zu verstehen, „viele Menschen können sich in den darin beschriebenen Gefühlen und Begebenheiten wiederfinden“.

Sie selbst hat übrigens Jura studiert, unter anderem in Hamburg und auch in Bordeaux. Sie war gut im Studieren und auch im Ausüben ihres Berufs. Wurde verhältnismäßig früh Mutter, ein zweites Mal schwanger. Und dann krank. Lungen- und Rippenfellentzündung. Es sei, erzählt Amelie Fechner, um Leben und Tod gegangen.

Hamburgerin gab ihren Job nach Krankheit auf

Als sie aus dem Krankenhaus herauskam, änderte sie alles. Zumindest, was das Berufliche angeht. Sie hörte auf, als Juristin zu arbeiten, hatte keine Fristen, keinen Stress mehr, kümmerte sich um ihre Kinder (und hatte anderen Stress), tat dann das, was wohl immer schon ihre Berufung war, seit sie als Kind anfing, Geschichten und Gedichte zu verfassen. Sie schrieb. „Und wenn der Alltag noch so stressig war, ich machte immer Beobachtungen, die ich dann zu Papier brachte“, erinnert sich Fechner, die ihre Gedichte auf einem Abend unter Freundinnen vortrug, mehr Auftritte hatte, Postkarten druckte, bei Ellert & Richter Gedichtbände veröffentlichte.

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Also, ein völlig neues Leben. Es musste sein. Es ist nämlich so: Das Leben ist kurz, aber lang genug, um das Falsche zu tun und darüber unglücklich zu werden. Man muss herausfinden, um was es wirklich geht.

Fechner nimmt sich Zeit beim Schreiben

Ein großer Teil ihres Wesens habe brach gelegen, als sie ihren erlernten Beruf ausübte, „die Juristerei ist für jemanden wie mich, der intensiv fühlt, nichts, was auf Dauer glücklich macht“. Krankheit als Weckruf also, wenn man so will. Und man kann Fechner, die Umsteigerin mit dem Mut, einen gut bezahlten Job zu kündigen, sicher auch als Paradebeispiel der Hobbyautorin sehen, die ihre Leidenschaft nun auslebt. Aber nicht mit im Selbstverlag gedruckten Schwarten, die keiner lesen will, sondern mit Text-Miniaturen, die fast unaufdringlich ihren Weg zu den Leserinnen und Lesern finden.

Richtig viel schreibt sie eh nicht, oder besser: Lyrik ist keine Fließbandarbeit. Während der Pandemie etwa hat Amelie Fechner vier neue Gedichte verfasst. Wenn etwas von Herzen kommt, geht es trotzdem oft schnell beim Schreiben, sagt sie. Auftragsarbeiten dagegen machen oft mehr Arbeit. Fechner schreibt Texte für Firmenjubiläen, Hochzeiten oder andere Anlässe. Aber nichts ist vergleichbar mit der Resonanz, die sie von den Leserinnen und Lesern für ihre Alltagsgedichte bekommt. „Es rührt mich, wenn mir eine Leserin aus Nordrhein-Westfalen schreibt, dass sie eine Gedichtpostkarte von mir in ihrem Spind hängen hat“, sagt Fechner.

Hamburgerin arbeitet direkt an der Elbe

Sie fühlt es deutlich, das Privileg, das zu machen, was ihr wirklich Freude bereitet. Vor ein paar Jahren fragte die Kulturbehörde, die gerade mit einem Untersuchungsausschuss die Kostenentwicklung der Elbphilharmonie betreffend beschäftigt war und juristische Expertise suchte, bei ihr nach. Fechner hatte während ihres Referendariats einige Monate für die Stadt gearbeitet. Sie habe das Angebot nett gefunden, „aber als ich die Aktenstapel mit nach Hause nahm, wusste ich ziemlich schnell, dass ich in diesen Beruf nicht zurückgehen möchte“.

Amelie Fechner, die von ihrem Büro nur ein paar Dutzend Treppen durch ihr verwinkeltes, kleines Viertel laufen muss, bis sie an der Elbe ist, lebt die ganz große Freiheit. Sie ist die Alltagsdichterin aus Blankenese, die mit wortschön betexteten Postkarten die ganze Republik beliefert.