Hamburg. Die Pianistin wollte eigentlich nie mehr auf die Bühne – der Hauptgrund dafür liegt tief. Dennoch spielte sie nun in Hamburg.

So klein, so zart, so zerbrechlich. Als Maria João Pires mit einem Stapel Noten im Arm in eines der Künstlerzimmer der Laeiszhalle tritt, ist das der erste Eindruck. Der zweite: Diese Frau strahlt eine unglaubliche Wärme und Zugewandtheit aus. Ihre Augen leuchten, die Konzentration auf den Gesprächspartner ist vollkommen – ein Weltstar, der keine Scheu vor Nähe hat. Und Allüren schon mal sowieso nicht.

Nach Hamburg ist die 76-Jährige gekommen, um im Rahmen des Martha Argerich Festivals ein gemeinsames Konzert mit ihrer alten Freundin zu geben. Doch dass sie überhaupt vor Publikum Klavier spielt, ist keine Selbstverständlichkeit: 2018 hatte Maria João Pires offiziell ihren Rückzug von der Bühne erklärt. Sie sei einfach kein Bühnenmensch, sagt sie heute dazu, doch der Hauptgrund für ihre damalige Entscheidung liege tiefer und sei vor allem ein körperlicher.

Maria João Pires leidet an einer Dystonie

Seit Jahrzehnten habe sie immer wieder mit einer Dystonie, einer neurologischen Bewegungsstörung in der rechten Hand zu kämpfen, die zu unwillkürlichen Kontraktionen führt. „Die Finger schließen sich, um sich gegen die Belastung zu wehren“, hat sie erkannt, aber wenn sie das sagt, dann schwingt da keine Verbitterung mit, sondern eine fast heitere Gelassenheit, mit der sie diese Einschränkung akzeptiert, die sie ohnehin nicht ändern kann.

Sind so kleine Hände: Maria João Pires hat ihre Mühe damit. Weitere Fotos von Händen bekannter Pianistinnen und Pianisten unter instagram.com/pianist_hands.
Sind so kleine Hände: Maria João Pires hat ihre Mühe damit. Weitere Fotos von Händen bekannter Pianistinnen und Pianisten unter instagram.com/pianist_hands. © Unbekannt | Holger True

Als Hauptproblem allerdings, und das lässt sich tatsächlich nicht lösen, hat sie die Größe ihrer Hände ausgemacht. „Die sind einfach zu klein und ich habe sie am Klavier ein Leben lang zu sehr angespannt.“ Ihrem Repertoire sind entsprechend seit jeher recht enge Grenzen gesetzt.

Rachmaninow ist für sie mangels Spannbreite kaum drin, auch kann sie längst nicht jedes Brahms-Stück spielen, das sie so gerne spielen würde. Doch dafür hat sie bei den Pfeilern ihrer musikalischen Welt, bei Chopin, Beethoven, Schubert und Mozart, fast die freie Auswahl – und in der Vergangenheit zahlreiche Einspielungen abgeliefert, die als Referenzaufnahmen gelten.

Martha Argerich und Maria João Pires Geistesverwandte

Höchstes Kritikerlob, ein Auditorium voll jubelnder Menschen, Auszeichnungen, Galas, Blitzlichtgewitter: Manch Künstlerkollege würde all das in vollen Zügen genießen, Maria João Pires ist es eher unangenehm. Sie glaube nicht, dass Interpreten als Personen so wichtig seien und im Vordergrund stehen sollten, sagt sie. Ihr jedenfalls gehe es bei Aufnahmen und Konzerten einzig um die Musik. „Sie ist eine Sprache, die ich verstehe und in die ich immer noch tiefer eindringen möchte.“

Eine Geistesverwandte habe sie in Martha Argerich gefunden. Mehr als 45 Jahre kennen die beiden sich schon, „und als wir uns das erste Mal trafen, hatten wir sofort eine Verbindung“. Dennoch spielen sie nur selten zusammen, haben noch kein einziges gemeinsames Album aufgenommen. Warum? „Ich bin manchmal ein bisschen scheu und Martha hat so viele andere Künstler, mit denen sie aufnimmt“, sagt sie mit einem Lächeln. „Da will ich nicht dazwischen kommen.“

Maria João Pires studierte in München und Hannover

Bescheidenheit ist gewiss ein Kennzeichen von Maria João Pires, die als Jugendliche von Freundinnen und Lehrern zum Klavierstudium überredet werden musste. Eigentlich war ein Medizinstudium geplant, doch in den 60ern, zur Zeit der Salazar-Diktatur in Portugal, war lange unklar, ob sie überhaupt an der Uni zugelassen werden würde – die Eltern standen in Opposition zum erst 1974 durch die Nelkenrevolution überwundenen System.

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Schließlich ging die damals noch nicht Volljährige nach Deutschland, studierte an der Akademie der Tonkunst in München und der Musikhochschule Hannover, weshalb sie noch immer nahezu perfekt Deutsch spricht. Bis heute schwärmt sie von Meisterkursen beim legendären Wilhelm Kempff (1895-1991). Ihren Durchbruch hatte Maria João Pires 1970 bei einem Klavierwettbewerb in Brüssel, von da an ging es nur noch bergauf – ein über Jahrzehnte laufender Exklusivvertrag mit der Deutschen Grammophon inklusive.

Maria João Pires konnte mit Isolation gut umgehen

Sechs Kinder hat sie großgezogen, darunter zwei adoptierte Jungs („Ich hatte ja schon vier Mädchen“), einer von ihnen, Cláudio, ist inzwischen für ihr Management zuständig. Auch drei Enkel hat sie mittlerweile, mit denen sie während der coronabedingten Lockdowns viel Zeit verbrachte. Auf ihrem Hof in Portugal, auf dem sie nach längeren Phasen in Brasilien, Belgien und der Schweiz heute vor allem lebt, zusammen mit Schweinen, Hühnern, Truthähnen und Ziegen. „Aber die sind nicht zum essen“, stellt sie klar. „Ich bin seit mehr als 40 Jahren Vegetarierin.“

Die Corona-Zeit sei gewiss für viele Kolleginnen und Kollegen schwer gewesen, sie jedoch habe sich sehr gut mit der erzwungenen Isolation arrangiert. „Ich musste nicht reisen und hatte sogar eine gute Entschuldigung dafür, einfach mal für längere Zeit zu Hause zu bleiben.“ Doch nun, im Zuge internationaler Öffnungen und der voranschreitenden Aufhebung von Reisebeschränkungen, ist sie wieder unterwegs, gibt Klavierabende in der portugiesischen Heimat, aber auch in der Schweiz, in Lettland, Spanien – und nun in Hamburg.

Am Stück kann Maria João Pires nur 45 Minuten üben

„Ich sehe das Publikum nicht als Beobachter, sondern als Teil des musikalischen Prozesses“, sagt sie. „Wenn wir bei einem Konzert auf derselben Welle sind, wenn es keine Trennung zwischen uns gibt, sondern nur die Musik, die uns auf eine gemeinsame Bewusstseinsebene führt, dann ist das wunderschön.“

Und dann ist wohl auch vergessen, dass sie, die seit dem dritten Lebensjahr nahezu täglich am Klavier sitzt, wegen ihrer körperlichen Einschränkungen heute nur noch 40 bis 45 Minuten am Stück üben kann. Für eine Weile sei sie sogar mal auf das Cello umgestiegen, weil da die rechte Hand kaum belastet wird. Aber: „Ich hatte am Ende nicht die Geduld, ein neues Instrument für mich aufzubauen.“ Welch Glück für die Pianowelt.

Maria João Pires hat ein Delfin-Tattoo

Tatsächlich, so der Eindruck an diesem entspannten Nachmittag bei Mineralwasser, Keksen und Studentenfutter, gibt es wohl wenig, was Maria João Pires nachhaltig aus der Ruhe bringt, auch nicht das Klopfen eines Mitarbeiters der Festivalleitung, der zum Aufbruch drängt, weil vor der Laeiszhalle bereits das Auto wartet, das sie zurück ins Hotel Grand Elysée bringen soll. „Ach, ich habe noch Zeit“, sagt sie und lächelt.

Zum Abschied fällt der Blick auf das Delfin-Tattoo auf ihrem rechten Handgelenk, ein Symbol für Weisheit, Freiheit und ganz grundsätzlich die Liebe zum Leben. Kein Aufmerksamkeit heischendes Kunstwerk voller Verschnörkelungen, sondern klar, dezent – und doch unübersehbar. Wie passend für diese kleine große Frau.

Maria João Pires auf CD: „Complete Recordings on Deutsche Grammophon“ (38 CDs, ca. 75 Euro); mariajoaopires.com