Hamburg. Das „Beethoven-Projekt II“ vereint Ballett-Intendant John Neumeier und Generalmusikdirektor Kent Nagano.

Es ist wirklich ein großes Glück, dass die Premiere von „Beethoven-Projekt II“, der zweite Teil von John Neumeiers Ballett-Hommage an den großen Komponisten der Klassik, nach mehrfacher Verschiebung nun endlich ihre Uraufführung in der Staatsoper erlebte.

„Dass ich mich freue, Sie heute Abend hier zu sehen, wäre untertrieben“, sagt dann auch ein sichtlich bewegter Neumeier zu Beginn eines triumphalen Abends der Rückkehr, wie er die Gefühle zurzeit wohl kaum besser beschreiben könnte. Vor allem im zweiten Teil. Die junge Riege des Hamburg Balletts tanzt, springt und dreht sich mit den Fingern schnippend derart entfesselt und sprühend vor Lebenslust, dass die Haare nur so fliegen.

Und Ida-Sofia Stempelmann, Ensemble-Neuzugang aus dem Bundesjugendballett, zieht, ganz in Weiß gekleidet, alle Register frühlingshaften Erwachens. Nach einer gefühlt ewigen kulturellen Corona-Winterruhe wirkt das wie eine Befreiung. Beethovens 7. Sinfonie liefert dazu eine geradlinige Klangschönheit, aufgeladen mit Zuversicht.

Weder reine Biografie noch bebilderte Sinfonie

Doch der Abend fängt zunächst dezent und zart an mit „Hausmusik“, der c-Moll-Violinsonate op. 30, 2 und einem perfekten Zusammenspiel des Tenors Klaus Florian Vogt, der Pianistin Mari Kodama und dem Geiger Anton Ba­rachovsky. Wie schon in „Beethoven-Projekt I“ gibt der grandiose Aleix Martinez den so fragilen wie genialen Komponisten, wie er auf die Flügeltasten einhämmert, allein, er nimmt keinen Klang mehr wahr. Das Gehör droht, sich zu verabschieden.

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Gegen die aufkommende Verzweiflung kann auch Hélène Bouchet als liebevolle Muse, die Martinez in einem atemberaubend grazil getanzten Pas de deux umschlingt, nicht helfen. Martinez spielt erneut seine Stärken aus, den expressiven, akkuraten, nie übertriebenen Ausdruck, eine einzigartige Gelenkigkeit und Sprungkraft und eine geschmeidige, harmonische Präsenz. Inspirationen und Dämonen suchen ihn heim in Form tanzender Schatten des Ensembles um die elegante Yun-Su Park und den feinnervigen David Rodriguez.

Musik und Tanz agieren eng miteinander verschränkt

Die Tragödie des Genies erzählt Neumeier auf der Folie von Beethovens Oratorium „Christus am Ölberge“, das in zeitlicher Nähe zum „Heiligenstädter Testament“ entstand, einem Brief, in dem er seiner existenziellen Verzweiflung über das Gehörleiden Ausdruck verlieh. Die Parallele zum Leiden Christi mag arg überhöht erscheinen, aber sie funktioniert.

Neumeiers zweite Zusammenarbeit mit Generalmusikdirektor Kent Nagano erinnert in manchem an die erfolgreiche erste Kooperation in Messiaens „Turangalîla“ (2016). Auch beim „Beethoven-Projekt II“ agieren Musik und Tanz eng miteinander verschränkt, entwickeln einen Episodenreigen ohne ein bestimmendes Narrativ. Die Kreation ist weder reine Biografie noch bebilderte Sinfonie.

Inspirierende, fast an zeitgenössischen Tanz erinnernde Bewegungen

Dafür sind hier sehr inspirierende, fast an zeitgenössischen Tanz erinnernde Bewegungen zu erleben. Gezirkelte Arme, Oberkörperdrehungen, Bodenfiguren, Virtuosität und Eleganz. Wie schon im ersten Projekt hat Albert Kriemler die Tänzerinnen und Tänzer in farbenfrohe, fließende Gewänder gehüllt.

John Neumeier (r.) und sein Ehemann Hermann Reichenspurner im Staatsopern-Foyer
John Neumeier (r.) und sein Ehemann Hermann Reichenspurner im Staatsopern-Foyer © dpa | Markus Scholz

In Heinrich Trögers Bühnenbild sind die auf 35 Musikerinnen und Mu­siker reduzierten Philharmoniker unter Naganos Leitung mit gebotenem Abstand auf der Bühne platziert. Diagonalen spielen seit jeher eine große Rolle in Neumeiers Kreationen. Auch hier teilt eine Leuchtröhre die Welt in Licht und Schatten, Hören und Nichthören, Leben und Tod. Auf der hinteren Diagonalen trifft der innerlich zerrissene Martinez am Flügel in Jacopo Bellussi auf sein – jüngeres und gesünderes – Alter Ego.

Ein Fest aus Grazie

Bald weicht die Dramatik des ersten Teils einer willkommenen Dynamik. Schon zu Beethovens Waldstein-Sonate tanzt die Compagnie schwungvoll auf. Vollends bricht sich die Lebensfreude Bahn im „Tanz!“ überschriebenen Höhepunkt zur 7. Sinfonie, der zudem einigen eindrucksvollen Pas de deux Raum gibt. Ida-Sofia Stempelmann und Atte Kilpinen verkörpern mitreißend die ungestüme Jugend.

 Anna Laudere und Edvin Revazov, der im Lockdown enorme Muskelmassen aufgebaut hat, verwandeln das Allegretto in ein Fest aus Grazie, Innigkeit, präzisen Dehnungen und Hebefiguren. Zum Presto – Assai meno presto fliegt schließlich die hinreißende Ma­doka Sugai in die Arme von Alexandr Trusch. Gemeinsam zünden sie ein Feuerwerk aus Sprüngen, Drehungen und atemlosen Tempo.

Eindrucksvoller Abschiedsreigen

Schließlich versammelt sich das Corps de Ballet zum eindrucksvollen Abschiedsreigen, in dem unter anderem Hélène Bouchet und Félix Paquet und Yun-Su Park und Lizhong Wang glänzen. In freundliches Grau und leuchtendes Gelb gewandet, zieht das Ensemble über die Vorder- und die obere Bühne und scheint dabei in einer Art transzendenter Versöhnung auch die Zerrissenheit des Künstlergenies Beethoven zu heilen.

In seinen Eingangsworten hatte Neumeier davon gesprochen, dass sein auch im Lockdown sehr produktives Ballett immer in Bewegung geblieben sei, aber niemanden habe bewegen können. Mit diesem zu Recht mit Bravos und Standing Ovations bejubelten „Beethoven-Projekt II“ meldet sich die Tanzkunst in Hamburg eindrucksvoll zurück.

Termine: 31.5. (ausverkauft), 17./18.6., 19.30 Uhr, Infos: www.hamburgballett.de