Hamburg. In der Ausstellung „Family Affairs“ zeigen Fotografinnen und Fotografen Blicke auf die Urform unseres Zusammenlebens.

Ist es möglich, durch die Kraft der Gedanken ein reales Ereignis zu beeinflussen? Der Verdacht liegt nahe. Gerade hatten die Deichtorhallen ihren aktuellen Podcast dem Thema „Kunst auf Abstand“ gewidmet (Bilder werden nur noch telematisch, also via Internet, angesehen, Museen virtuell besucht, Vernissagen ohne Künstler gefeiert) – da öffneten sich durch Spontan-Senatsbeschluss auch schon die Türen der Ausstellungshäuser. Und die Kunst, ja, die kann wieder „Herz und Geist öffnen“, wie Deichtorhallen Intendant Dirk Luckow es im Interview mit Moderatorin Friederike Herr so fein formuliert.

Es ist nun also wieder möglich, das „sinnliche Erleben des Originals, das Abschreiten eines durchdachten Parcours“, so Dirk Luckow in seiner Begrüßung zur Ausstellungseröffnung von „Family Affairs. Familie in der aktuellen Fotografie“. Die mit rund 400 Arbeiten großangelegte Schau im Haus der Photographie, die bereits im April aufgebaut worden war, und nun endlich zu betrachten ist, läuft bis zum 4. Juli.

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Dass sie laufen wird, davon ist Kurator Ingo Taubhorn überzeugt: Familie gehe schließlich wirklich jeden etwas an. Nichts präge einen Menschen stärker als seine Herkunftsfamilie. Ganz gleich, ob sie intakt ist oder nicht. Ob sie zu weit entfernt oder zu nahe ist. Ob man die Mitglieder seines Clans mag oder nicht. Familie kann ebenso großes Glück wie Katastrophe sein, Anker in stürmischen Zeiten und Klotz am Bein. Oder, mit den Worten eines Ausstellungsmachers gesprochen: „Familie ist vielschichtig.“

Das Private, Intime wird öffentlich gemacht

Gezeigt werden aktuelle Projekte von Künstlerinnen und Künstlern aus aller Welt, die auf der einen Seite die Verschiedenartigkeit familiärer Modelle und Lebensweisen und auf der anderen Seite ihre unterschiedlichen fotografischen Herangehensweisen an dieses komplexe Thema zeigen.

„Der fotografische Blick durchbricht dabei das Alltägliche und stellt vorherrschende Normen infrage. Überkommene und neue Rollenbilder, intime Momente des Elternseins und des Älterwerdens, Überforderung und Chaos werden ebenso thematisiert wie Liebe, Halt und Verzweiflung an der eigenen Familie“, sagt Ingo Taubhorn.

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Oft sind es persönliche Grenzerfahrungen, die in den Bildern verarbeitet werden und das Private, Intime öffentlich machen. In „Milky Way“ zeigt Vincent Ferrané ungeschönte Porträts seiner Frau beim Stillen des gemeinsamen Kindes, inklusive geschwollener Brüste, strähniger Haare und Flecken von ausgespuckter Milch. Fotografin Linn Schröder ließ sich mit ihren Zwillingen im Arm fotografieren, wobei die Narbe ihrer Brustkrebsoperation deutlich zu erkennen ist.

Elinor Carucci hat ihr Älterwerden in „Midlife“ schonungslos dokumentiert

Kollegin Katharina Bosse wollte mit ihren Selbstporträts, die sie mit ihren Kindern mal schwimmend in einem Bach, aufreizend in Dessous im Kornfeld oder ganz nackt am Strand präsentieren, ein Statement als Mutter und Fotografin setzen und „dem traditionellen Familienporträt eine klare Absage erteilen“, so Bosse.

Es sei wichtig, Geschichten aus der Perspektive von Frauen zu erzählen, die Mütter werden. Besonders in der bisher von Männern dominierten Fotografie. Die amerikanisch-israelische Künstlerin Elinor Carucci etwa hat ihr Älterwerden in „Midlife“ schonungslos dokumentiert – bis hin zu einem Bild ihrer herausoperierten Gebärmutter. Sie ist der Meinung, dass „im Mikrokosmos der Familie alles existiert, alle unsere Emotionen und Gefühle“.

Erschreckende Leerstellen und kollektives Erinnern

Die starken, emotionalen Bilder wollen Sichtbarkeit erzeugen: von Andersartigkeit, Autoren- und Autorinnenschaft und gesellschaftlichen Missständen. Gustavo Germano stellt in der Serie „Ausenc’as“ Opfer der Politik des „erzwungenen Verschwindens“ südamerikanischer Militärdiktaturen der 1970er- und 80er-Jahre dar. Familienfotos aus dieser Zeit stehen neben Bildern, die am exakt gleichen Ort nachgestellt wurden.

Doch dort, wo Eltern, Kinder oder Geschwister einst zu sehen waren, sind Leerstellen. Der US-amerikanische Fotograf Neil DaCosta reiste für das Projekt „WaterIsLife“ in den Omo Nationalpark in Äthiopien wo alle 20 Sekunden ein Mensch aufgrund mangelnder Trinkwasserversorgung stirbt. Seine dort entstandenen Bilder sind für viele Familien also tatsächlich „Last Family Portraits“.

Anrührende Vater-Sohn-Gespanne

Die Südafrikanerin Lebohang Kganye stellt in „Mein Erbe“ Szenen aus dem Album ihrer verstorbenen Mutter nach und kopiert diese anschließend wieder in die Fotografien hinein, um ein „kollektives Erinnern“ aus persönlicher Geschichte und der Geschichte ihres Landes zu schaffen. Der Franzose Grégoire Korganow inszeniert seine anrührenden Vater-Sohn-Gespanne wie zu Zeiten der Hochrenaissance.

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Und Daniel W. Coburn kombiniert Schwarz-Weiß-Fotografien seiner eigenen Familie mit Fotografien von Flohmärkten und Antiquariaten zu einer erzählerisch unzusammenhängenden Auswahl, um das Familienalbum als „Vorstellung eines idealen amerikanischen Traums“ zu kritisieren.

Standardisierte Bildtypen

Wie sehr unsere Wahrnehmung durch standardisierte Bildtypen beeinflusst wird, führt uns die Amerikanerin Jamie Diamond vor Augen: In ihren Bildern haben sich Familien wie „The Warwicks“ oder „The Hiltons“ im feinen Sonntagsgewand vor repräsentativen Hintergründen versammelt, bei einigen Familienmitgliedern stellt man verblüffende Ähnlichkeiten fest. Nur, dass die Akteure weder miteinander bekannt noch verwandt sind, sondern von Diamond gecastet und in ein Hotelzimmer „geworfen“ wurden.

„Family Affairs. Familie in der aktuellen Fotografie“ bis 4.7. im Haus der Photographie (U Steinstraße), Deichtorstraße 1-2, Di-So 11.00-18.00, Eintritt 12,-/7,- (erm.), Zeitfenster-Tickets unter www.deichtorhallen.de/besuch oder T. 040/428 13 10 (Museumsdienst)