Hamburg. Im Thalia in der Gaußstraße entsteht gerade die Inszenierung „Die Politiker“, am Freitag ist Livestream-Premiere.

Politiker sind überall. In den Nachrichten, auf Twitter, bei Lanz, in den Zeitungen, im Radio, auf Insta­gram, bald wieder auf den Wahlplakaten. An jedem Straßenrand, in jeder Fußgängerzone. Immerzu auf Sendung. Bisweilen zu selten auf Empfang. Das ist nicht erst seit der Corona-Krise so, aber seither besonders auffällig: Politikern entkommt man nur schwer.

Auch nicht am Theater, natürlich. „Die Politiker“ heißt das 99-seitige Poem schlicht, das an diesem Freitag seine Livestream-Premiere auf der Webseite des Thalia Theaters feiert. Ein „Sprechgedicht“ von Wolfram Lotz, der als einer der besten Dramatiker des deutschsprachigen Gegenwartstheaters gilt, ein Text, über den die „Süddeutsche Zeitung“ kurz nach der Uraufführung 2019 schrieb, das er „einem bei der Lektüre wahnsinnig auf die Nerven“ gehe.

Mit den Arbeiten von Wolfram Lotz beschäftigt sich die Regisseurin schon länger

Charlotte Sprenger lächelt sanft und zieht an einer Probenpausenzigarette. Man müsse durchaus „viel Anstrengung betreiben, um den Rhythmus des Textes in Gang zu bekommen“, gesteht die junge Regisseurin. So gelassen, wie sie es sagt, scheint sie es mindestens sportlich zu nehmen. „Die Politiker“ war ihr eigener Vorschlag. Kein Text zum Lesen, einer zum Hören. Sprechen. Denken.

Sprenger, die im August nach dem ersten kulturellen Lockdown mit der Freiluftproduktion „Opening Night“ die kurze Hamburger Corona-Saison eröffnet hatte, probt nun erneut in der Gaußstraße. Mit den Arbeiten des gebürtigen Hamburgers Lotz beschäftigt sich die Regisseurin schon länger, sie schätzt ihn sehr.

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Kompromisslos sei er, „ein sehr besonderer Autor, der sich in seinen Texten unangestrengt um eine Gegenwärtigkeit“ bemühe: „Darum geht es doch immer am Theater. Es lebt von der Gegenwart. Was nicht bedeutet, dass man einem Zeitgeist hinterherrennt, aber die Realität, die wir haben, ist auch auf der Bühne vorhanden.“ In Zeiten wie diesen gilt das womöglich besonders, denn die Umstände der Stückerarbeitung fließen ebenso in die Form ein wie der Inhalt selbst.

Theater sind von Anfang an extrem vorsichtig gewesen

„Anfassen geht gerade nicht – und es wäre doch auch seltsam, wenn wir das jetzt vor Publikum trotzdem tun würden.“ Jeden zweiten Tag werden alle Produktionsbeteiligten getestet, sowohl im Haupthaus am Alstertor als auch in der Gaußstraße. „Die Theater sind von Anfang an extrem vorsichtig gewesen“, hat Charlotte Sprenger festgestellt, die in den vergangenen Monaten an verschiedenen Bühnen gearbeitet hat.

„Es wird überall ausgesprochen sorgsam mit der Gesundheit der Mitarbeitenden umgegangen, alle Ängste werden respektiert.“ Auch hier, draußen auf dem Hof der Gaußstraße, tragen während der Probenunterbrechung nahezu alle ihre Masken. Wer raucht, steht abseits.

Auch Hitler taucht auf

Währenddessen hat Sprenger in den vergangenen Monaten ein „fast schon extremes Interesse an Politik“ beobachtet. „Politikverdrossenheit sehe ich eigentlich gar nicht mehr, bei niemandem, eher so eine Art Über-Interesse – und auch extreme Frustration.“ Trotzdem gebe es kein plumpes „Politiker-Bashing“ in Lotz’ Stück, auch wenn der Bezug zur Realität bisweilen sehr konkret daherkommt: Hitler taucht auf, allerdings auch eine Figur namens „Wolfram Lotz“, und es wird an den Seehofer-Satz „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ erinnert.

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Einmal, verrät die Regisseurin, sei Alice Weigel zu hören, „es passt in den Zusammenhang“. Was die AfD-Politikerin da sage, sei „erkennbar faschistoid, aber was bei ihr und anderen auch verfängt, ist dieser Mechanismus: Reden, um zu reden, und dabei bestimmte Teilwahrheiten benutzen“.

Schauspielerinnen und Schauspieler sind „sehr unausgeglichen“

Die Gegenwärtigkeit des Theaters also. Umso mehr war es der Regisseurin wichtig, dass es eine Premiere geben wird – jetzt, zum Abschluss der Inszenierungsarbeit, nicht erst irgendwann. „Immer nur zu proben, ohne das Geprobte aufführen zu können, das ist für mich nicht das, was Theater ausmacht. Ich wollte nichts einfrieren und später auftauen. Es geht ja darum, dass Leute sich das jetzt angucken können. Es ist so wichtig, dass etwas stattfindet!“

Solange keine Vorstellungen gespielt werden, seien die Schauspielerinnen und Schauspieler zudem „sehr unausgeglichen“. Kein Wunder, findet Charlotte Sprenger, die als Tochter der Thalia-Schauspielerin Victoria Trauttmansdorff und des Regisseurs und Schauspielers Wolf-Dietrich Sprenger selbst in einer Theaterfamilie groß wurde: „Alle erfinden gerade immer nur, aber es kommt überhaupt nichts zurück!“ Auf der Probe habe es einen Moment gegeben, in dem ein Mitglied ihres Ensembles fast verzweifelt sei, weil ihm die Impulse fehlten. „Dabei liegt es natürlich gar nicht an ihm – woraus soll man denn schöpfen? Man erlebt ja so wenig, das geht uns doch gerade allen so.“

„Die Politiker“ wird als hybride Vorstellung erarbeitet

Die Gemeinsamkeit, die Grundsätzlichkeit der Erfahrungen – auch darum dreht es sich bei „Die Politiker“. Weshalb Charlotte Sprenger die zentrale Figur auf mehrere Spieler aufgeteilt hat. Bei ihr stehen viele Ichs auf der Bühne, sieben Schauspielerinnen und Schauspieler – und ein Kameramann, der das Geschehen live filmt. „Die Politiker“ wird als hybride Vorstellung erarbeitet, sie funktioniert ganz bewusst sowohl gestreamt als auch – irgendwann – analog für ein Vor-Ort-Publikum.

„Ich glaube, dass das eine schöne Wirkung haben kann“, erklärt Sprenger, „gerade wenn man als Zuschauer am Sehnsuchtsort Theater im Moment nicht sein kann. Man verpasst viel, und man gewinnt gleichzeitig viel. Wir spielen auch damit, dass man die Dinge im ­Stream manchmal explizit nicht sieht.“

Das Schönste wäre, sagt sie, während ein Eiswagen bimmelnd auf den Theaterhof der Gaußstraße ruckelt und Normalität simuliert, das Schönste wäre, wenn das Publikum nach der Streaming-Premiere den Wunsch verspüre, das Stück noch einmal auf der Bühne zu sehen. Den Bildschirm-Blickwinkel zu erweitern. Auch das eröffnet Räume.

Livestream-Premiere „Die Politiker“, Fr 7.5., 20 Uhr, auf thalia-theater.de; Tickets ab 9,-