Hamburg. Die Pandemie sorgt für einen intensiveren Austausch von Theatern und Museen. Die Idee dahinter ist einleuchtend.

Der Schauspieler Maximilian Scheidt durchmisst im Cowboyhut hallende Museumsräume, seine Ensemble-Kollegin Ute Hannig schreitet im Abendkleid die Kunsthallen-Marmortreppe hinab. Aus dem Bucerius Kunst Forum werden Klavierkonzerte gestreamt, in der Fabrik der Künste probt das Bundesjugendballett, Kampnagel und die Deichtorhallen treffen sich digital, mit der Elbphilharmonie will Kamp­nagel an die frische Luft.

Hat die Komplizenschaft der Künste in der Stadt ein neues Niveau erreicht? Entdecken sich die Hamburger Kulturinstitutionen gegenseitig neu?

Neue Energie und Kreativität

„Das Spielfeld hat sich erweitert.“ Dieser Satz klingt so gar nicht nach Beschränkung oder Verbot. Hört man Tobias Rempe zu, dem künstlerischen Manager des Ensemble Resonanz, wurde und wird eine ganz neue Energie und Kreativität freigesetzt – trotz oder gerade durch Corona. „Die Kontakte zu Theatern und Museen waren schon immer da; aber durch die Pandemie hat dieser Austausch noch einmal eine ganz neue Qualität bekommen.“

Lesen Sie auch:

Seit dem vergangenen Jahr kooperierte das Ensemble mit dem Thalia Theater, mit Kampnagel, der Elbphilharmonie und der Hamburger Kunsthalle im Rahmen von Streamings, kurzfristiger Umplanung von Veranstaltungsorten, gemeinsamen Programmen.

Eins-zu-Eins-Konzerte im Bucerius Kunst Forum

So wurden in einer spontanen Aktion im vergangenen Sommer innerhalb weniger Wochen sogenannte Eins-zu-Eins-Konzerte im Bucerius Kunst Forum entwickelt, bei denen jeweils 30 Gäste die David Hockney-Schau auf ganz andere Weise kennenlernen konnten. In dieser Woche ist der Pianist Alexander Krichel zu Gast in den Räumen am Rathausmarkt. Seine Konzerte werden direkt aus der Georges-Braque-Ausstellung gestreamt.

Unter dem Motto „Im Gehirn des Kindes“ griffen Musikerinnen und Musiker des Ensemble Resonanz zuletzt die laufende (aber geschlossene) De Chirico-Ausstellung in der Kunsthalle auf, um ihre Eindrücke in die Stadt zu tragen. Die Videos sind auf der Internetseite abrufbar.

Neue magische Wirklichkeit

„Bei dem gemeinsamen Projekt sollte es darum gehen, die großartige Ausstellung, die bislang kaum Publikum hatte, auf andere Art zu öffnen“, so Tobias Rempe. Auch Deutsches Schauspielhaus und Thalia Theater beteiligten sich an dem gemeinsamen Projekt und enterten „die menschenleeren Ausstellungsräume gleichermaßen als Inspiration und Bühne für die Schaffung einer neuen magischen Wirklichkeit“, so Kunsthallen-Direktor Alexander Klar.

„Der Pandemie bedurfte es in meinen Augen nicht, um die Bereitschaft der Hamburger Kunsthalle zu institutionsübergreifenden Kooperationen zu fördern“, stellt er klar. „Was allerdings durch die Pandemie eine ganz neue Dimension erfährt, ist unsere Zusammenarbeit mit Institutionen außerhalb der künstlerischen Sphäre.“

Ausstellung als Plattform für Kunst, Philosophie, Ethik und Ästhetik

Im Moment arbeitet man am Glockengießerwall an der ersten Ausstellung für 2022: „Futura – Zukunft als Denkform“. Ausgehend von der auf 500 Jahre angelegten „Tropfsteinmaschine“ von Bogomir Ecker beschäftigt sich die Ausstellung mit der Zukunft unserer Gesellschaft. Die Ausstellung ist als eine Plattform für Kunst, Philosophie, Ethik und Ästhetik gedacht.

Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:

  • Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
  • Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
  • Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
  • Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
  • Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).

 „Wir möchten dafür auch weitere Institutionen oder auch Bewegungen, wie beispielsweise ‚Fridays for Future‘, miteinbeziehen.“ Themen wie die Gestaltung der Stadt und ihrer Infrastruktur oder neue Möglichkeiten für die Innenstädte sollen in der Hamburger Kunsthalle eine wichtige Rolle spielen und damit „das historische Selbstverständnis des Museums als Musentempel neu definieren“, so Klar. „Neue Kooperationen mit einer großen Bandbreite gesellschaftlicher Gruppen werden die Kunsthalle noch stärker zum Ort der Verhandlung der zentralen Themen unserer Gesellschaft machen.“

Die Idee ist einleuchtend

Die Idee hinter spartenübergreifenden Projekten ist einleuchtend: Durch die Mischung der Bezugsgruppen (etwa Klassikfans und Museumsgänger, Klima-Aktivisten und Ethik-Experten) entstehen größere Netzwerke. Ein Synergieeffekt, der den kooperierenden Institutionen mehr Publikum und Bekanntheit beschert. Zumal durch die digitale Verbreitung auch lokale Grenzen fallen.

Auf diese Chance zahlt auch ein Modellprojekt ein, das durch die Bundesinitiative „Neustart Kultur“ gefördert wird: Gemeinsam mit dem Pierre Boulez Saal und dem Beethovenfest Bonn nimmt das Ensemble Resonanz in diesem Jahr an einem Modellprojekt zur Digitalisierung von Konzerthäusern und Bühnen teil. Sein Beitrag: das Portal resonanz.digital zu einer eigenständigen digitalen Bühne entwickeln, nicht als Abbild, sondern als Ergänzung zu Live-Konzerten.

Auftritte vor Publikum fehlen

Dass Auftritte vor Publikum fehlen, ist keine Frage. Und doch können Hamburgs Kulturschaffende dieser außergewöhnlichen Zeit der Verhinderung durchaus Positives abgewinnen. So berichtet Deichtorhallen-Intendant Dirk Luckow von „beschleunigten Prozessen“, wenn es darum geht, Ausstellungsprojekte mit Partnern weltweit zu planen und umzusetzen.

„Durch die Digitalisierung ist der Austausch schneller, unkomplizierter geworden.“ Beginnend mit dem Jahr 2022, wenn die Triennale der Photographie in die Stadt kommt, sind Kooperationen mit arabischen, afrikanischen und chinesischen Kuratorenteams für die Zukunft geplant.

Pandemie habe deutlich gemacht, wie sehr man sich gegenseitig brauche

Dabei werden die Deichtorhallen sich nicht mehr nur auf ihre Hallen konzentrieren. Um zu erforschen, welche Werkzeuge und Plattformen junge Kreative brauchen, welche Strukturen in Netzwerken existieren und wie man Kunst für möglichst viele unterschiedliche Nutzer zugänglich machen kann, arbeitet Dirk Luckow mit seinem Team künftig mit Kampnagel und dem Chaos Computer Club zusammen am Projekt „Diversify the Code!“.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Beide Häuser begreifen sich als international ausgerichtet und spartenübergreifend und haben schon in der Vergangenheit öfter kooperiert. Die Pandemie habe aber noch deutlicher gemacht, wie sehr man sich gegenseitig brauche; einen „inneren Anschubser“ nennt es der Intendant.

Kooperationen neu denken

Kooperationen ganz neu zu denken, die Krise als Chance für einen Zukunftsschub und kreative Herausforderung zu nutzen – so sieht es Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard in aller Klarheit. „Von Anfang der Pandemie an war uns klar, dass ein Rückzug auf das Private oder die Reduzierung auf die eigene Situation nicht unser Auftrag ist. Unser Haus ist ja strukturell schon sehr kollaborativ, weil wir mit Kompanien aus aller Welt zusammenarbeiten.

Und auch der Austausch mit Hamburger Kollegen, aber auch mit überregionalen Häusern, ist ein intensiver. Ich denke aber, dass die Art, wie wir miteinander kooperieren, durch Corona verändert wurde: spontaner, schneller, der jeweiligen Situation angepasst.“

Für den Kultursommer feilt Kamp­nagel schon mit der Elbphilharmonie an einem Konzerterlebnis im öffentlichen Raum, und mit dem Kunstverein will man im 100. Geburtstagsjahr von Joseph Beuys zusammenwirken.

„Gottesdienst der Künste“ im Thalia

Für das Thalia Theater gehört die Kooperation mit anderen Kulturinstitutionen der Stadt seit jeher „zum Kern unseres Selbstverständnisses“, so Intendant Joachim Lux. Man habe in der Vergangenheit etwa mit der Kunsthalle, den Deichtorhallen, dem Deutschen Schauspielhaus, Kampnagel (für Theater der Welt) oder dem Ensemble Resonanz für einen Hölderlin-Abend kooperiert, aber vielfach auch mit den Glaubensgemeinschaften der Stadt.

Am Vorabend der Schließung wegen des aktuellen Lockdowns wurden die Hamburger Staatstheater zu einem „Gottesdienst der Künste“ ins Thalia eingeladen. „Derzeit denken wir für den Herbst über eine Kooperation mit dem Reeperbahnfestival nach.“ Trotzdem fragt sich Lux: „Ist das Glas halbleer oder halbvoll? Obwohl es immer wieder Kooperationen gibt und auch mehr als man denkt: Es könnte durchaus mehr werden!“