Hamburg. Ist internationaler Austausch zwischen Kreativen unter Corona-Bedingungen möglich? Im Nochtspeicher gab es einen Versuch mit Konzert.
Lie Ning steht auf der Bühne im Nochtspeicher, um ihn herum spielt seine Band Gitarre, Schlagzeug und Keyboard. R&B- und Soul-Klänge, lila Lichter im abgedunkelten Raum – Clubatmosphäre. Doch vor dem 22-Jährigen aus Berlin steht kein Publikum. Der Auftritt im Hamburger Kiezclub ist kein normales Konzert, der Saal dient heute als Sendeort für einen Livestream in die ganze Welt.
Dafür sind fünf Filmkameras auf Ning gerichtet, selbst hinter der leeren Getränkebar steht eine. Ein Kameramann klettert auf die schwarze Lederbank an der Wand, um von der erhöhten Position aus die perfekte Einstellung zu drehen.
Ning ist hier, um sich einem internationalen Publikum und vor allem dem chinesischen Markt zu präsentieren. Der Auftritt gehört zum Reeperbahn Festival International Peking, das diese Woche stattfindet – von Hamburg aus. Es ist eines der sechs internationalen Ableger, die kleinen und mittelständischen Unternehmen und Künstlern helfen sollen, sich international neue Märkte zu erschließen. Während Ning auf der Bühne steht, können über 100 „Delegierte“ aus Deutschland, Norwegen, Italien und natürlich China über ein Onlineportal zusehen. Sie mussten sich vorher um die Teilnahme bewerben.
Reeperbahn Festival vernetzt Künstler aus Asien und Europa
Dabei sind Männer und Frauen aus den Bereichen Musiklizensierung, Promo oder Vertrieb. Neben dem Showcase mit jungen aufstrebenden Künstlern wie Ning besuchen die Konferenzteilnehmer Workshops, bekommen Einblicke in chinesische Unternehmen und können an gezielten Matchmaking-Veranstaltungen teilnehmen.
Die internationalen Ableger sollen auch das Reeperbahn Festival selbst im Ausland bekannter machen, vergleichbar mit der Berlinale oder den großen Buchmessen. Möglich macht das seit 2019 die Förderung des Auswärtigen Amtes. Das Konzert im Nochtspeicher ist der einzige öffentliche Teil des internationalen Festivals, der Stream zum Konzert wird an diesem Abend auch über Facebook gezeigt – und direkt 55.000 Mal angesehen.
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In Nings sanften Gesang mischen sich kurze, schnelle Ansagen der vier Techniker, die gegenüber der Bühne sitzen: „Auf die Hände... und dann hoch... jawoll!“ Über 60 Personen waren in Hamburg daran beteiligt, das Konzert und den digitalen Austausch nach China auf die Beine zu stellen. 34 sind bei der Aufzeichnung im Nochtspeicher dabei. Neben den bekannten Regeln – Maske tragen, Abstand halten – mussten sie weitere Sicherheitsmaßnahmen beachten: Vor Ort gibt es am Konzertabend kein Catering, während der Aufzeichnung bleiben die Techniker und Kameraleute auf festgelegten Plätzen und Laufwegen. Statt den vorgeschriebenen Schnelltests müssen die Arbeitenden jeden Tag in dieser Woche in einem eigenen Testzentrum in der benachbarten Washington-Bar PCR-Tests machen.
PCR-Test positiv: Eine Künstlerin kann nicht in Hamburg auftreten
Das hat sich gelohnt: Neben Ning sollte auch die Berliner Künstlerin Ava Vegas mit ihrer Band für das Konzert anreisen. Die Schnelltests, die sie und ihre Kollegen regelmäßig machen, waren durchgängig negativ. Große Überraschung am Abend vor dem Auftritt: gleich zwei PCR-Tests der Band fielen positiv aus. Also wird stattdessen ein voraufgezeichnetes Interview und ein Auftritt von einem anderen digitalen Festival gezeigt. Vegas freut sich trotzdem, sich dem chinesischen Markt präsentieren zu können.
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„Es ist gerade totale Aufbruchsstimmung in China, das Land ist eine der wichtigsten Weltmächte. Wir wissen im Westen so wenig darüber, es ist wie eine neue Welt“, sagt sie. „Es gibt natürlich Sachen, die dort aus europäischer Sicht nicht ideal laufen, aber es ist auch spannend zu sehen, was da auf uns zukommt, wenn wir uns mehr mit dem Land befassen.“ Auch Sänger Ning ist dankbar für die Teilnahme am internationalen Reeperbahn Festival. „Es ist schön und schade gleichzeitig“, sagt er. Ursprünglich sollten er und seine Band mit den anderen Konferenzteilnehmern nach China reisen. Erst am Sonnabend wird er auf einer virtuellen After Show-Party die Möglichkeit haben, sich zu vernetzten. Schon mal gehört und gesehen zu werden, das erleichtere den Eintritt.
„Der nächste Song ist sexy, falls ihr tanzen wollt, tut das gerne, auch wenn es vor dem Bildschirm nicht dasselbe ist“, sagt Sänger Ning am Abend auf der Bühne. Ob die Zuhörerinnen und Zuhörer das wirklich tun, ist auf dem Laptopbildschirm von Evelyn Sieber nicht zu sehen. Die 45-Jährige hat den Showcase und die zugehörige Konferenz organisiert. Seit 2020 ist sie Gesamtprojektleiterin für das internationale Reeperbahn Festival, das Ableger in fünf Destinationen in Afrika, China und den USA präsentiert.
Während Nings Auftritt sitzt Sieber im gläsernen Vorbau des Nochtspeichers. Auf der Onlineplattform zum Festival trifft sie die Teilnehmer, die sich als kleine „Icons“ – rund eingefasste Videoübertragungen von sich selbst – in einem digitalen Nochtspeicher bewegen. Nings Auftritt ist in dem so genannten „Spatial Chat“ eingebunden. Bewegt sich ein Icon näher an die Bühne, wird der Gesang lauter, bewegt er sich weg, klingt die Musik langsam aus. So können die Teilnehmer sogar Gruppen bilden und sich vor der virtuellen Bühne unterhalten.
Reeperbahn Festival: Teilnehmer hören Konzert online
Sieber spricht mit einer Teilnehmerin über Jazz auf dem chinesischen Markt. Live dabei sind vor allem europäische Teilnehmer. Das Konzert wird nach dem Stream als Video-on-demand für die chinesischen Teilnehmer ausgespielt. Das mache die Übertragung einfacher, erklärt Sieber: Denn in China komme zur technischen noch eine politische Ebene dazu. Wird der Inhalt als „subversiv“ wahrgenommen, könnten Livestreams abgeschaltet werden.
„China ist einer der schwierigsten Märkte.“ Der Austausch vor Ort habe vor der Pandemie aber gut funktioniert. Sieber hofft, die nächsten Festivals zumindest teilweise in Präsenz abhalten zu können. Bis dahin gibt es internationalen Applaus im digitalen Raum: Während im Nochtspeicher der letzte Song verhallt, hüpfen auf dem Bildschirm alle Icons auf und ab.