Hamburg. Das mehrtägige Strawinsky-Festival des NDR Elbphilharmonie Orchesters präsentierte den Komponisten Thomas Adès als Gastdirigenten.
Es gibt komponierende Dirigenten und es gibt dirigierende Komponisten. Nur die allerwenigsten sind ausgeglichen höchstbegabt, doch die Versuchung ist groß, diese Selbsterkenntnis hin und wieder sanft auszublenden.
Igor Strawinsky selbst, den das NDR Elbphilharmonie Orchester in der letzten Woche mit einem klug kuratiertem Festival zum 50. Todestag würdigte, hatte mitunter eher in die zweite Kategorie gehört. Der Brite Thomas Adès – als einfallstarker Avantgarde-Lieferant weltweit bestens vernetzt und Erstligist– erwies sich am Sonnabend beim Gastdirigat im Live-Stream aus dem Großen Saal als orchesterpädagogischer Problemfall.
Künstlerpech-Malheur und verstolpertert Konzertabend
Einer dirigierte, stoisch weit ausholend, der Rest spielte fremdelnd und stoisch brav vor sich hin. Dass Adès nach dem Ende, bevor dafür kein Beifall aus den leeren Rängen kam, sein Taktstock auf den Bühnenboden fiel, war ein harmloses Künstlerpech-Malheur, doch auch ein anschauliches Symbol für diesen stehend verstolperten Konzert-Abend.
Adès war kurzfristig für den erkrankten NDR-Chefdirigenten Alan Gilbert eingesprungen, vielleicht auch als ein Trostpflaster für den Adès-Themenschwerpunkt im Elbphilharmonie-Sortiment, den Corona, wie so vieles, gestrichen hatte. Und er hatte mit dem Pianisten Kirill Gerstein, Solist für Strawinskys charmant angeschrägtes Konzert für Klavier und Blasorchester, einen bestens vertrauten Virtuosen an seiner Seite, dem er 2018 immerhin ein Klavierkonzert maßgeschneidert hatte.
Diese Musik wurde lediglich geliefert
Solide Voraussetzungen eigentlich, alles in allem. Doch mehr als ein arg gediegenes Durchkommen blieb davon am Ende der drei schön kombinierten Schau-Stücke aus Strawinskys vielschichtigem Werkkatalog nicht übrig. Woran es lag, dass kein Funke zünden und kein mitreißender, eleganter, unkantiger, cleverer Schwung in diese Sache kommen wollte? Schwer zu sagen, auch wegen der Online-Distanz zum Konzertsaal und dem ins Wohnzimmer gestreamten Klang-Gesamteindruck, in dem sich Tiefenschärfe und Klarheit versendeten.
An Gerstein aber lag es ziemlich eindeutig nicht. Der hatte seinen Part im Griff. Kam mit dem Material gut zurecht, das sich effektsicher in früheren Epochen der Musikgeschichte und auch beim damals hochaktuellen Jazz bedient hatte. Die raffiniert in Szene gesetzten kleinen Frechheiten, das Gegeneinanderreiben der kreuz und quer stehenden Rhythmus-Akzente im Klavier und der Melodielinien im Orchester? Es blieb letztlich alles, nun ja, lauwarm und ungefähr. Pointen blieben Anspielungen.
Eine undankbare Pandemie-Sitzordnung
Dass die anderen folgenden Programmpunkte Ballettmusiken waren und einer davon immerhin zu den größten Publikumslieblingen seit dem frühen 20. Jahrhundert zählt, eine funkelnde Bravournummer für groß besetzte Orchester und ihre Dompteure – erst durch den Blick aufs Abendprogramm konnte man sich diese Tatsachen wieder ins Gedächtnis rufen.
In der mythologischen Rahmenhandlung von „Apollon musagète“ sind gleich drei Musen neben dem Gott der schönen Künste unterwegs, doch nicht eine von ihnen hatte genug Erbarmen mit der Musik, um sie liebevoll aus ihrer Halbstarre zu befreien. So wenig Adès aus der Klangpalette des streicherlosen Blasorchester im Klavierkonzert gemacht hatte, so wenig Sinnlichkeit und neoklassisch aufgeschäumte Eleganz entdeckte er nun in dem kleinen, feinen Streicherapparat. Diese Musik wurde lediglich geliefert; gespielt, umspielt, umarmt, verzückt und grazil auf Händen getragen wurde sie nicht.
Dieser „Feuervogel“ mochte partout nicht abheben
Dann wenigstens die „Feuervogel“-Suite? Ein Stück, das niemanden kaltlässt, ein Kracher, süffig, aufbrausend, spannungsgeladen, alle Tricks auskostend, mit denen man ein Publikum zum begeisterten Rasen bringen könnte. Eine undankbare Pandemie-Sitzordnung, die viel Blech weit weg in den ersten Rang hinter der Bühne verbannte und das Orchester-Panorama in Puzzle-Einzelteile zerfaserte, erschwerte Adès einen Teil der Überzeugungswucht, damit hätte derzeit jeder Dirigent zu kämpfen gehabt.
Doch dieser „Feuervogel“ mochte partout nicht abheben, noch nicht einmal im Finale, bei dem man sich wirklich mächtig anstrengen muss, um es unter Wert zu verkaufen. Wer bremst, verliert, das wäre wenigstens hier eine angemessene Devise gewesen. Doch Adès bremste und verlor den Auftrieb, anstatt himmelhochjauchzend zu fliegen, bis zum Schlussakkord.
Das Konzert ist online abrufbar auf der Homepage des NDR-Orchesters sowie in den Mediatheken von Arte Concert und der Elbphilharmonie.