Hannover. Das Schauspiel Hannover bringt Wolfgang Herrndorfs Romanfragment auf die Bühne. Eine Außenseiterballade mit großer poetischer Kraft.

Ein gleißender Scheinwerferkegel tastet sich vor durch hohes Gras. Aus ihm erhebt sich die jugendliche Isa: rebellisch blau gefärbte Haare, weites Shirt, rote Jacke, weite Hose. Das Erwachsenwerden geht bei der 14-Jährigen, frisch aus der Psychiatrie abgehauen, mit einem besonders heftigen Gefühlsgewitter einher. Sie werde langsam wieder verrückt, sagt sie.

Das komme in Schüben wie Hunger oder Durst. Die eindringlichen Sätze stammen von Wolfgang Herrndorf. Sein Romanfragment „Bilder deiner großen Liebe“, Nachfolger des Erfolgsromans „Tschick“, blieb unvollendet. 2013 nahm sich der unheilbar an Krebs erkrankte Autor das Leben. Seine engen Weggefährten Kathrin Passig und Marcus Gärtner brachten den Text 2014 schließlich heraus.

Regisseur Markus Bothe in Hamburg bekannt

Regisseur Markus Bothe, in Hamburg bestens bekannt durch Schauspielhaus-Familienstücke wie „Robin Hood“, inszenierte den Stoff in einer Bühnenfassung von Robert Koall nun am Schauspiel Hannover. Es ist ein für Bothe eher ungewöhnlich intimes Zweipersonenstück. Sechs Kameras sorgen am Donnerstag bei der Livestream-Premiere für erfreulich variable Perspektiven. Der Zuschauer folgt Isa, wie sie mit bloßen Füßen weg von der befremdlichen Stadt und durch den von Kathrin Frosch wunderbar angelegten Garten der Welt streift.

Erfüllt von Fluchtinstinkt, Lebenshunger und Selbstbehauptung. Trotz des abwesenden Publikums mobilisiert die wunderbar kraftvolle Seyneb Saleh die schwankenden Gefühle Isas mit enormer Energie. Mal tanzt sie enthusiastisch über einem Gartensprenger. Dann wieder findet sie sich ängstlich lauernd und atemlos leise in der Wildnis wieder.

Eine Außenseiterballade mit großer poetischer Kraft

Eine zweite Person schält sich aus dem Grün. Torben Kessler agiert als namenloser Mann in diversen Rollen als ihr ebenso eindrucksvoller Gegenpart. Mal ist er ein Mann, der zurückblickt auf seine ersten Verliebtheiten, mit denen er nur wenige Sätze gewechselt hat. Dann wieder ein Bootsführer, der sich an einen Bankraub erinnert. Selten kommt es zum Dialog der beiden. Isa liegt im Gras, hört Stimmen, sucht den Kontakt zur Welt und bleibt doch in der Einsamkeit des Daseins gefangen.

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Regisseur Bothe setzt gekonnt auf die enorme poetische Kraft dieser Außenseiterballade und die fast traumartige, stets weitertreibende Dynamik der Road-Novel. Mal sampeln die Schauspieler ihre eigenen Stimmen zu einem vielstimmigen Natur-Konzert. Mal verwandelt sich Kessler im Pinguinkostüm (Kostüme: Justina Klimczyk) in ein gehörloses Kind, dann im Raumanzug in einen durchs Gras tänzelnden Astronauten. „Wenn du alt bist, ist alles verloren“, philosophiert er. „Was du heute erlebst, ist eine zukünftige Erinnerung.“

Bewegende Inszenierung in Pandemie-Zeiten

Am Ende verbeugen sich die Darsteller vor Applausstürmen aus einem Kassettenrekorder. Nicht nur diese Geste gibt dieser Inszenierung in Pandemie-Zeiten mit all ihrer Vereinzelung und Verrücktheit etwas sehr Bewegendes. Denn über allem schwebt die Tatsache des vom Leben und Sterben seines Autos so beglaubigten Textes. Der jedoch kündet weniger von Verzweiflung als von einer unermesslichen Liebe zum Leben und zur Natur. Passend dazu senkt sich die Dunkelheit über den im Gras ruhenden Neon-Schriftzug „I love you with all my heart“. Äußerst sehenswert.

„Bilder deiner großen Liebe“ für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene, weitere Vorstellungen 16. u. 20.3., jew. 19.30, Karten und Livestream unter www.schauspielhannover.de