Hamburg. Kristina Love und Stephan Jaekel von Stage Entertainment über Erfahrungen und Nöte in der Musical-Zwangspause.

Sie gehören seit Jahren, großteils sogar seit Jahrzehnten zum Hamburger Stadtbild, glänzen bei Sonnenschein auch von außen und sind – ebenfalls seit Langem bekannt – eine Touristenattraktion: die großen Musicals. Doch ob Theater im Hafen, salopp schon mal „gelber Sack“ genannt, mit dem Dauerbrenner „König der Löwen“, Theater an der Elbe („Pretty Woman“), Operettenhaus auf St. Pauli oder Neue Flora in Altona-Nord – kulturell tut sich in den Häusern nichts.

Seit Freitag, 13. März 2020, sind die vier Theater der Stage Entertainment GmbH mit Sitz in der Speicherstadt ebenso geschlossen wie die jeweils zwei in Berlin und Stuttgart. Und anders als staatliche und weitere privat geführte Theater in der Hansestadt blieben die Stage-Theater auch im vergangenen Sommer und Herbst dicht.

Kristina Love ist voll in ihrer Titelrolle aufgegangen

Immerhin, an diesem sonnigen Vorfrühlingstag ist die Pförtnerloge am Bühneneingang der Neuen Flora gleich doppelt besetzt, als sich Kristina Love und Stage-Entertainment-Sprecher Stephan Jaekel den Weg in den riesigen Saal bahnen. Sie kennen ihn noch. Kristina Love grüßt die beiden Angestellten.

Als in der Neuen Flora vor einigen Jahren „Aladdin“ lief, gab Kristina Love in jenem Musical eine Wahrsagerin. Doch so etwas wie eine Corona-Pandemie lässt sich wohl weder im Märchen noch im realen Leben schlicht vorhersagen. Außerdem ist die gebürtige US-Amerikanerin nach einem Gastspiel bei „Rocky“ voll in ihrer ersten Titelrolle in „Tina – Das Tina Turner Musical“ aufgegangen.

Die Show über den Aufstieg und Fall sowie das Comeback einer der größten weiblichen Rock-und Popstars lebt insbesondere von ihrer Darbietung. „River Deep, Mountain High.“ Dass Tina Turnier 2019 eigens zur Premiere ins Operettenhaus kam, war für Love eine Ehre.

Neue Flora: Neuinszenierung des Broadway-Erfolgs „Wicked

Am vergangenen Mittwoch (3. März) hätte „Tina“ als Musical Geburtstag gefeiert. „Brutto zwei Jahre, netto ein Jahr“, rechnet Jaekel der in Hamburg lebenden Darstellerin vor. Beide lachen – wenn auch etwas gequält. Und Kristina Love erinnert sich, dass sie am 2. März 2020 ihre bisher letzte Vorstellung im Operettenhaus gesungen und gespielt hat. Am 15. März hätte sie, die „Tina“-Erstbesetzung, im Vorjahr wiedereinsteigen wollen; zwischendurch war sie nach New York geflogen, um Freunde zu besuchen.

Am 14. März kehrte sie via Frankfurt am Main nach Hamburg zurück, mit einer der letzen Linienmaschinen. „Mir war klar, dass ich erst mal nicht mehr spielen kann“, sagt die 31-Jährige heute. „Mir war aber nicht klar, dass es so lange dauern wird.“ Kristina Love dachte an ein paar Wochen. Jetzt freut sie sich, überhaupt mal wieder ein Theater von innen zu sehen. Wenn auch nur von einem der 1850 Sitze aus oder auf der Bühne vor dem eisernen Vorhang.

Im Mai sollen die Proben starten

Der Boden und die Bühnenkonstruktion, erläutert Jaekel, seien neu. Alles Grundlagen für „Wicked“. Die Neuinszenierung des verhexten Broadway-Erfolgs soll als Nachfolger des spektakulären Artistik-Musicals „Paramour“ möglichst noch in diesem Sommer in der Neuen Flora Premiere feiern.

Im Mai sollen deshalb die Proben starten, die internationale Besetzung werde man selbstverständlich zweimal pro Woche auf Corona testen, so der Stage-Entertainment-Sprecher. Die drei weiteren Produktionen in Hamburg, mithin auch „Tina“, werden erst mal Monat für Monat verschoben.

Stage Entertainment - Förderung weder von Stadt noch vom Bund

Aber wie und unter welchen Bedingungen können die Stage-Theater in Hamburg überhaupt wieder öffnen? Im vorigen März hatten sie vor der behördlich angeordneten Schließung übergangsweise an drei Abenden für jeweils maximal 1000 Besucher gespielt. Diese Regelung hält Stephan Jaekel allerdings für „nicht sachgerecht“.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Zum einen aus wirtschaftlichen Gründen. Bis heute hat Stage Entertainment in der Corona-Krise weder von der Stadt noch vom Bund finanzielle Förderung erhalten. Als es im Vorjahr Gespräche gab mit der Kultur-, Wirtschafts- und Finanzbehörde, da fand sich der Musical-Riese irgendwo zwischen den unterschiedlichen Veranstaltern wieder. Geld floss indes keines.

„Es zeichnet sich ab, dass wir für dieses Jahr Geld vom Bund bekommen könnten“, erläutert Jaekel. Doch egal, ob es zwei, vier oder sogar acht Millionen Euro werden – ohne undankbar sein zu wollen, sagt Jaekel: „Für uns ist es ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Das Problem sei die Deckelung der Zahlungen.

Lockdown kostete 300 Millionen Euro Umsatz

Allein im zurückliegenden Jahr des Lockdowns sei Stage Entertainment rund 300 Millionen Umsatz entgangen, zu dem vor Corona 3,3 bis 3,6 Millionen Besucher mit dem Kauf von Karten und Merchandising-Produkten beitrugen. Die laufenden Kosten liegen für das Unternehmen bundesweit bei fünf Millionen Euro pro Monat.

Und aus den beiden jeweils eine Milliarden Euro schweren Töpfen des Fonds „Neustart Kultur“ der Staatsministerin Monika Grütters (CDU) kann das Hamburger Großunternehmen bisher nur einmalig 100.000 Euro pro Theater für pandemiebedingte Investitionen (für Desinfektionsspender oder Masken) beantragen. „Unsere Reserven sind jedenfalls seit Ende vorigen Jahres aufgebracht“, räumt Stephan Jaekel ein.

Bedeutet auch: Um neue Musicals in Hamburg zeigen zu können, muss Stage Entertainment ins wirtschaftliche Risiko gehen und Kredite aufnehmen. Von etwa 100 Beschäftigten in der Verwaltung in Hamburg will sich das Unternehmen, das bundesweit etwa 1600 Mitarbeiter hat, im Laufe des Jahres trennen (das Abendblatt berichtete).

Vorschläge für eine bessere Zukunft

Dennoch nennt Jaekel Vorschläge für eine bessere Zukunft: „Wenn es mit der Kultur in Hamburg wieder richtig losgeht, wünschen wir uns, dass wir mit unseren Musicals Teil einer Werbekampagne werden können“, sagt Jaekel. Mit der Spieldauer eines Stückes, das lehrt die Erfahrung, steigt die Zahl der auswärtigen Besucher: „Im Schnitt sind es dann ein Viertel Besucher aus der Region und drei Viertel Übernachtungsgäste, vornehmlich aus Deutschland, Österreich und der Schweiz“, erläutert Jaekel.

Eine weitere Hilfe könne ein „Ausfallfonds“ vom Bund sein, der etwa greife, falls Stage Entertainment eine Musical-Produktion nach zwei oder drei Wochen aufgrund von gestiegener Corona-Fallzahlen wieder stoppen muss.

Corona-Schnelltests nur in Ausnahmefällen im Theater

Corona-Schnelltests großflächig am und im Theatern fürs Publikum durchzuführen hält Jaekel nicht für machbar, allenfalls in Ausnahmefällen könnte man Besucher ohne Nachweis vor Ort testen. Bei Theaterkapazitäten zwischen 1360 Sitzen im Operettenhaus und 2030 im großen Theater im Hafen brauche es eine nutzbare Platzzahl von etwa 70 Prozent, damit sich der Betrieb rentiere. Das ist GeschätsDeshalb setzt der Musical-Riese außerdem auf die moderne Belüftung in allen Stage-Theatern, welche die Luft senkrecht nach oben absauge und regelmäßig austausche.

Zum zweiten sieht der Stage-Entertainment-Sprecher einen „philosophisch-psychologischen Aspekt“, der gegen eine wie in anderen Theater zuletzt übliche maximale Belegung von einem Drittel spricht: „Abstand und Menschsein passen einfach nicht zusammen“, sagt Jaekel.

Kristina Love schrieb in der Zwangspause eigene Lieder

Das sieht Kristina Love erfahrungsgemäß genauso. Proben auf Distanz? „Das ist überhaupt nicht mein Ding.“ Insofern wirkt die Musical-Darstellerin fast dankbar, dass sie unter solchen Bedingungen bisher nicht arbeiten musste. „Kurzarbeit“, diese hiesige Erfindung, hat Kristina Love, die seit 2011 in Deutschland und davon fünf Jahre in Hamburg lebt, nun zwölf Monate lang wie das Gros der Stage-Beschäftigten kennengelernt, wenn auch nicht genossen.

Es bedeutet ein Stück Sicherheit im Vergleich zu vielen freiberuflichen Künstlerinnen und Künstlern. Nachdenklich blickt sie in den großen Saal der Neuen Flora: „Ich brauche nicht viel zum Leben. Ich bin froh, dass ich meine Miete zahlen kann.“

Kein Beruf, sondern eine Berufung

Nach zuvor eineinhalb Jahren voller Musical-Power mit Casting im Herbst 2018, Proben, Premiere und folgenden acht Vorstellungen pro Woche bis März 2020 konnte sie ihren Körper im Lockdown endlich mal „richtig regenerieren lassen“, erzählt sie. „Blut und Schweiß, die opfere ich sonst jeden Tag“, sagt Kristina Love.

„Das, was ich mache, ist kein Beruf, es ist eine Berufung.“ Und deshalb hat die charismatische Künstlerin in der Zwangspause mal wieder Gesangsstunden genommen, hat eigene Lieder geschrieben, diese mit einem Musikerkollegen eingesungen und gemastert. Ihr schon vor zwei Jahren angekündigtes erstes Pop-Album ist kurz vor der Veröffentlichung, den Titel jener Love-Songs verrät sie noch nicht.

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„Es gibt wichtigere Dinge im Leben als Geld – meine Familie vor allem“, hat sie erkannt. Die ist Patchwork: Ihre insgesamt sieben Geschwister und ihre Eltern und deren neue Partner leben in ihrer Geburtsstadt Cincinnati (Ohio) und in ihrer Heimatstadt Houston (Texas) sowie in weiteren US-Bundesstaaten.

Zunächst wird Kristina eine weitere Musical-Family in Hamburg kennenlernen: Spätestens im September, möglichst schon früher, so hoffen Love und Jaekel unisono, soll „Tina“ im Operettenhaus etwa ein halbes Jahr lang in die Verlängerung gehen. Drei Viertel der Besetzung ist inzwischen neu , „Das wird eine frische Energie bringen“, sagt Kristina Love und lächelt.