Hamburg. Reale und virtuelle Welt mischen sich im Rahmen des Festivals „Dancing Screen“ auf dem Gelände der Kulturfabrik zur tollen Erfahrung.
Dynamisch und voller Energie wirbelt Marcelo Dono um die eigene Achse. Der Song „Maniac“ aus dem Tanz-Klassiker „Flashdance“ ist aber auch schweißtreibend. Dabei sieht es so aus, als würde der Hamburger Choreograf auf dem Trottoir der Kampnagel-Piazza tanzen. So jedenfalls zeigt es der eigene Handy-Bildschirm. Dono wurde aber mit einem Kunstgriff wie eine ausgeschnittene Figur in die Wirklichkeit „gebeamt“. Reale und virtuelle Welt mischen sich zu einer erstaunlichen Erfahrung.
Einige Meter weiter performt das Choreografen- und Tanzduo Frank Willens und Johanna Lemke auf einem schneebedeckten Basketballfeld die berühmte Tanzszene aus dem 1980er-Jahre-Kinohit „Dirty Dancing“: „I’ve had the time of my life ...“ Inklusive beachtlicher Pirouetten und der legendären Hebeszene. Schon zuckt es im eigenen Körper und man wippt zwangsläufig mit. In diesem erfindungsreichen Format eines analog-digitalen Rundgangs macht Tanz wirklich Spaß – auch wenn er nur auf einem kleinen Bildschirm passiert.
Premieren, historische Tanzfilme und Diskussionen
Möglich macht es das Festival Fokus Tanz #7 mit dem Titel „Dancing Screen“ auf Kampnagel. Bis zum 28. Februar gibt es Premieren, historische Tanzfilme und Diskussionen zum Thema Tanzfilm zu entdecken. Seit den 1980er-Jahren hat sich das Genre zunehmend als eigene Kunstform etabliert. Schon Pina Bausch hat das Medium für Proben benutzt. Heute ist der Tanzfilm über soziale Medien global verbreitet.
„Es gibt Tanz- Challenges wie ‚Jerusalema‘, bei denen dank ein paar Song-Sekunden die Musikindustrie profitiert, aber es fragt niemand danach, wo und in welchem Kontext der Tanz entstanden ist“, erläutert Dramaturgin Melanie Zimmermann, die das Festival gemeinsam mit Alina Buchberger kuratiert hat. „Es existiert eine politische Beziehung zwischen der Aneignung des Tanzes, der Verwertung, der sozialen Dimension und dem Profit am Ende.“
Reine „Digital-Edition“
Das Festival ist natürlich eine – übrigens kostenfreie – reine „Digital-Edition“. Den Rundgang allerdings können Besucher zu jeder Tages- und Nachtzeit vor Ort erleben. Einfach die „[K] to go“-App herunterladen und vor dem Kampnagel-Kassenraum per Handy den Code am Boden scannen und sich damit in die Szene einwählen. Insgesamt neun Stationen umfasst der Parcours rund um die Kampnagel-Hallen, an dem sich viele internationale und Hamburger Choreografinnen und Choreografen beteiligen.
Aus der realen zurück in die digitale Welt: Die US-Choreografin Nasheeka Nedsreal zeigt mit „Memories of Reincarnated Imaginings“ zum Auftakt der Tanzfilm-Reihe eine von drei aktuellen Auftragsarbeiten des Festivals. Vor der beunruhigenden Klangkulisse von Erik Truffaz’ sehnsuchtsvoller Trompete entwirrt ein Tänzer in einer Lagerhalle mithilfe einer Drehbewegung ein um den Kopf gewickeltes Tuch.
Mit Fantasiemasken verhüllte Tänzerinnen nehmen eindringliche, kämpferische Posen ein. Die Mischung aus „Lost Places“, traditionellen Bewegungen und einem zeitgenössischen Vokabular zieht mit einer kunstvollen Bildsprache in den Tanz hinein. Das Ergebnis ist ziemlich großartig und funktioniert auch auf der digitalen Bühne.
Eröffnungsgespräch zur Entwicklung des Tanzfilms
Mit Merce Cunningham ist in der teils historisch angelegten Reihe ein Pionier des zeitgenössischen Tanzes wie auch des Tanzfilms zu erleben, der das Prinzip der Collage in „Variations V“ (1966) perfektioniert. In einer Umgebung aus Plattenspielern, Tonbändern, Kabel-Gebirgen, Messtönen, Antennen und Fotozellen mischen Cunningham und die Mitglieder seiner Dance Company klassische Figuren und alltägliche Bewegungen zu schwebender Schönheit. Weitere Filme der nächsten Festivaltage stammen etwa von Boris Charmatz, Lucinda Childs und William Forsythe.
Auf Höhe des aktuellen Diskurses bewegt sich das Eröffnungsgespräch. Die Tanzwissenschaftlerin Claudia Rosiny, die Choreografin Joana Tischkau und die Kuratorin und Journalistin Arlette-Louise Ndakoze zeigen darin die Entwicklung des Tanzfilms auf und diskutieren Fragen von Reproduktion, Autorinnenschaft und kultureller Aneignung an prominenten Beispielen.
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2011 etwa nutzte Pop-Sängerin Beyoncé für ihr auf YouTube verbreitetes Musikvideo „Countdown“ Bewegungen der belgischen Star-Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker. Diese erlangte dadurch unverhofft so viel Popularität, dass sie von einer Beschwerde absah. Was aber sagt das über den Umgang mit originalen Kontexten aus? Und dürfen nur bestimmte Choreografen Tänze bestimmter Communities verwenden?
Zentrale Fragen, auf die es häufig keine einfachen Antworten gibt, die aber einem Tanzfilmfestival in Zeiten der Pandemie neben der Unterhaltung auch eine formale und inhaltliche Dringlichkeit verleihen.
Festival „Fokus Tanz #7 Dancing Screen“ bis 28.2. (alle Videos danach bis 7.3. verfügbar), kostenlos, Programm unter www.kampnagel.de