Hamburg. Das Festival „Lesen ohne Atomstrom“ streamte zum Abschluss eine exklusive Bühnenfassung der aufwendigen ARD-Dokumentation “Saal 101“.

„Die Niederlage des rationalen Menschen“, so lautete das Motto beim neunten, aufgrund von Corona eine Woche lang live gestreamten Festival „Lesen ohne Atomstrom“. Was die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch mit ihrem gleichnamigen Essay für das Festival-Buch „Act now!“ (Handelt jetzt!) vorgegeben hatte, geriet zum Abschluss am Sonntagabend zum Novum: In Kooperation mit der ARD bot das Festival exklusiv einen Vorgriff auf eine aufwendige Hörfunk-Produktion, wie es sie in der Bundesrepublik bisher nur zu den Auschwitz-Prozessen gegeben hat.

Noch bevor „Saal 101“, das insgesamt zwölfstündige Werk über das Verfahren gegen den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU), am kommenden Freitag und Sonnabend in allen ARD-Kultur- und Info-Radios sowie im Deutschlandfunk zeitgleich ausgestrahlt wird, hatte Michael Farin eine einstündige Fassung arrangiert, den „Hamburger Prolog“, so der Bühnenregisseur.

Kein präzises Protokoll des Verfahrens gegen den „Nationalsozialistischen Untergrund“

In Abstimmung mit Katarina Agathos, Chefdramaturgin des bei diesem Dokumentarhörspiel federführenden Bayerischen Rundfunks, hat Farin versucht zu destillieren, was verschiedene ARD-Gerichtsreporter in mehr als fünf Prozess-Jahren bis Juli 2018 am Oberlandesgericht München im Saal 101 auf mehr auf mehr als 6000 DIN-4-Seiten festgehalten haben.

 Denn: Ein präzises Protokoll der 438 Prozesstage vom Gericht oder anderer staatlicher Organe existiert nicht, das sieht die Strafprozessordnung nicht vor. Auch eine Verlegung in eine größere Halle hatte die Justiz abgelehnt, ein Strafprozess finde „in der - aber nicht für die Öffentlichkeit“ statt, heißt es auch jetzt in „Saal 101“.

Viele Fragen zum NSU-Komplex immer noch unbeantwortet

Im „Hamburger Prolog“, der nur Ausschnitte der Ausschnitte bieten kann, ersetzt der Hamburger Schauspieler Michael Prelle in der Freien Akademie der Künste den erkrankten Thomas Thieme aus Weimar; er zählt aber wie seine anwesenden Kollegen Katja Bürkle und Michael Rotschopf zur achtköpfigen Sprecherriege für die ARD-Hörspielproduktion.

Die drei lesen im Wechsel kurze Passagen, und schnell wird deutlich, dass viele Fragen zum NSU-Komplex bis heute unbeantwortet sind. Insbesondere die nach dem Warum. Sowie die Hoffnung der Opferangehörigen, mehr über Hintergründe und frühere Ermittlungspannen der Behörden zu erfahren.

Ermittlungen konzentrierten sich zu lange auf die Opfer

Die mutmaßlichen Haupttäter Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos verübten 2011 Selbstmord. Mit der Hauptangeklagten NSU-Mittäterin Beate Zschäpe hatten sie zwischen 2000 und 2007 in ganz Deutschland, von Rostock bis München, zehn Morde verübt, etwa an Süleyman Taşköprü, Obst- und Gemüsehändler und Familienvater aus Altona.

Dazu kamen 15 Raubüberfälle und zwei Bombenattentate. Lange, viel zu lange konzentrierten sich die stereotypen Ermittlungen auf die Opfer (Unwort: „Döner-Morde“) und auf deren Angehörige.

Hauptangeklagte: „Die letzten fünf Jahre waren für mich ein Entwicklungsprozess.“

Auch das kommt in „Saal 101“ heraus, dieser Verdichtung der Prozessaufzeichnungen, die von Einblicken in den Gerichtssaal über Beweisaufnahmen, Aussagen der Nebenkläger bis zum psychiatrischen Gutachten über Beate Zschäpe („Durchaus energisch, eigenständig, anerkannt in der rechten Szene“) reichen.

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Die Hauptangeklagte beteuert in ihren letzten Worten vor Gericht „ihr aufrichtiges Mitgefühl“ gegenüber den Angehörigen. „Die letzten fünf Jahre waren für mich ein Entwicklungsprozess.“ Nachtrag: Gegen ihre lebenslange Haft haben Zschäpes Verteidiger Revision eingelegt, ebenso die der vier Mitangeklagten gegen deren Strafen.

„Saal 101“ ARD-Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess Fr 19.2. 20.05 bis 2 Uhr, Sa 20.2., 20.05 bis 2 Uhr, u.a. bei NDR Kultur, als CD-Box (49,-) ab 19.2. im Hörverlag, alle Festival-Veranstaltungen unter www.lesen-ohne-atomstrom.de