Hamburg . Livestream-Konzert aus dem Großen Saal der Elbphilharmonie mit einzigartigem Gastsolisten: Was für ein Musiker, was für ein Abend!

„Der Lautstärkepegel hat 80 Dezibel erreicht. Schon nach ungefähr fünf Stunden und 30 Minuten kann dieser Pegel zu temporärem Hörverlust führen.“ Diese wunderbar unnötige Warnung vibrierte die Apple Watch plötzlich ins Handgelenk, direkt nach dem ersten, steil und wuchtig eingesprungenen Einsatz des Solo-Klaviers in Prokofiews 1. Klavierkonzert, als das Tutti gerade mit dem Gaspedal des Stücks flirtete. Der Algorithmus kann schon unter normaleren Umständen nicht zwischen schnödem Krach und rhythmischem Klang unterscheiden.

Doch im Großen Saal der Elbphilharmonie, im leeren Rang-Mittelgebirge sitzend, bei einem Live-Stream-Konzert des NDR-Orchesters mit dem immer einzigartiger werdenden Daniil Trifonov als Gastsolist, in diesen so schmerzhaft stummgestellten Tagen, Wochen, Monaten? Mildernde Umstände für diese gutgemeinte Wortmeldung des smarten Aufpassers. Und: knapp fünfeinhalb Stunden am Stück von dieser Beschallung? Schön wär’s ja.

Sensationelles Konzert mit einer Netto-Stunde Spielzeit

Kurz und heftig war das sensationelle Konzert am Freitagabend, rund eine Netto-Stunde Spielzeit, auf zweimal typischen Prokofiew und einmal kryptischen Schnittke verteilt, aber dennoch ein kräfteverbrennender Hindernislauf rein und raus in die dort verlangten Extremzustände, der wunderbar mitanzuhören war. Zum Warmwerden und zur begrüßenden Stimmungsaufhellung lag Prokofiews Erste auf den Notenpulten, ein feines, im höflichsten Sinne des Wortes nettes Stück Gefälligkeitsmusik.

Hin und wieder franste die Balance noch etwas an den Rändern und in den Spitzen aus, doch es wurde auch gut hörbar, dass der Klangkörper mittlerweile mit den coronabedingt vergrößerten Abständen zwischen den Instrumentengruppen umzugehen gelernt hat. Trifonov erwies sich, wie sollte es auch anders sein, bei seinem Debüt mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester, nicht nur als pianistischer Alleskönner, sondern auch als Alleswissenwoller, mit durchdringendem, weltvergessenen Tunnelblick auf jede einzelne Note, jede Nuance, jede Deutungsnotwendigkeit fixiert.

Trifonov flanierte und tänzelte durch die drei Sätze

Nicht immer spielten das Orchester und sein Chefdirigent in derselben Liga. Aber Trifonov – er hatte dieses Konzert vor wenigen Tagen mit den Berliner Philharmonikern unter Leitung von Kiril Petrenko in deren Stream-Kameras abgeliefert - schaffte es beim Prokofiew mit funkelnder Lässigkeit, die gesamte, nicht gerade kleine Hamburger Begleitung mal eben mit sich zu ziehen, sie anzutreiben und zu fordern. Alan Gilbert hielt dabei dienstleistend den Kurs und sorgte für genügend Begleit-Kulisse, Trifonov kümmerte sich um Spannung und Drive.

Als wären sie ein nagelneues Spielzeug mit vielen Extra-Funktionen, flinkfingrig und diesen Spaß spontan genießend, so flanierte und tänzelte er durch die drei Sätze; als hätte er sich all die Bonus-Triller und Hand-Kreuzungen und die anderen Show-Kapriolen eben erst ausgedacht, um auszutesten, was wohl noch so alles geht. Im zartbitteren Mittelsatz ließ er höflich den Solo-Bläsern den Vortritt und fantasierte verträumt um ihre Melodie-Linien herum, bevor er das Finale polierte und wie einen virtuos gezauberten Fallrückzieher im Tor versenkte.

Was für ein Musiker, was für ein Abend

Die Zugabe könnte eine frühklassische Sonatensatz-Kleinigkeit eines Bach-Sohns gewesen sein, Trifonov perlte diese Petitesse jedenfalls mit leichter, fein aufgetragener Romantik-Glasur butterweich und singend in die Flügel-Tastatur, unbeschwert und mit sonnigem Gemüt. Das war das genaue Gegenteil zum Epizentrum dieses angenehm kontrastarken Programms: Schnittkes Konzert für Klavier und Streichorchester, ein erschreckend schroffes Stück, 1979 uraufgeführt, das in seiner strengen Kompromisslosigkeit widerspenstig bleibt und mit seinen Andeutungen auf Stile und Epochen zeitlose Fragen über Sein und Schein heraushämmert. Ein Bruch-Stück, das existenzielle Verwirrung stiftet und am Ende mit einer letzten großen Unklarheit unvollendet bleibt, weil der Klavierpart mit seinen höchsten Tönen ins Nichts verendet.

Hier war Trifonov, trotz der Streicher-Besetzung neben dem deckellosen Flügel, künstlerseelenallein, mit sich und dieser Sinnsuche. Auf die längere Distanz im Saal hörte man das der Musik unmittelbar an, die sich tiefer und tiefer in die vielen Schichten dieser Substanz schraubte, wühlend, manisch, pöbelnd geradezu. Bei den Nahaufnahmen, die der Stream von Trifonov bot, von seinen so sicher nach Halt suchenden Händen, von der verletzlichen Waldschratigkeit seines Gesichts, der Blick nach innen fast völlig von Mähne und Bart umwuchert und erschrocken selig – da wurde schlagartig klar, wie ernst und groß und bewegend und kräftig diese Kunstform ist, wenn ihre Möglichkeiten so furchtlos ausgereizt werden. Was für ein Musiker, was für ein Abend.

Stream: Bis Ende Februar auf www.ndr.de/eo und in der NDR EO-App abrufbar.

Nächstes geplantes Trifonov-Konzert: 22. April. Werke von Dvorak, Mozart und Schubert mit dem Mahler Chamber Orchestra. Elbphilharmonie, Gr. Saal. Aktuelles Album: „Silver Age“ Musik von Skrjabin, Strawinsky, Prokofiew. Mariinsky Orchestra, V. Gergiev (DG, ca. 15 Euro).