Hamburg. Von Bach bis Feldman, von Levit bis Babayan: Ein Überblick über sehr individuelle Klaviermusik-Aufnahmen.
Natürlich gibt es sie noch, die Musterschüler-Einspielungen von Klaviermusik-Standardwerken. Doch interessanter als derartige Produktionen sind die CDs, die individuelle Handschriften erkennen lassen und dabei zu hörbaren, durchinszenierten Autogramm-Karten werden.
Zwei aktuelle und prominente Fälle: Igor Levit kann in diesen Tagen seinen Konzertzyklus mit den Beethoven-Sonaten in der Elbphilharmonie nicht fortsetzen. Für Daniil Trifonov fiel die Wiederholung eines extrem mutig komponierten Programms ins Wasser, bei dem er mit Berg, Prokofjew, Bartók, Copland, Messiaen, Ligeti, Stockhausen und Cage lauter Klassiker des 20. Jahrhunderts in der Laeiszhalle vereinen wollte. Doch, leider: Hätte, hätte, Infektionskette.
Beide haben aktuelle CDs auf dem Markt, die kein Ersatz sind, aber ihre Stärken unter Beweis stellen. Das übel verunglückte Gegeneinanderausspielen der beiden Virtuosen hat einem Rezensenten der „SZ“ vor einigen Wochen wegen antisemitischer Anwürfe gegen Levit einen mächtigen Shitstorm eingebracht; inzwischen ist so ziemlich alles und von jedem dazu gesagt, gedruckt oder getwittert worden. Jetzt ist der Blick auf deren Musik wieder notwendig.
Marc-André Hamelin spielt, als hätte er mehr als zehn Finger
Für sein neues Doppel-Album „Silver Age” hat Trifonov mit der sicheren Hand des Alleskönners viel Abseitiges und Außergewöhnliches aus der Umbruchzeit zwischen russischer Sehrspätromantik und früher Moderne zusammengestellt. Nirgendwo ist eine Schwäche, nie ist ein intellektuelles Überfordertsein hörbar; pianistisch ist ihm ohnehin alles möglich.
Zunächst Feinmotorisches von Strawinsky, danach die kleingemeinen „Sarkasmen“ von Prokofiew, bevor Trifonov mit Bearbeitungen von Strawinskys „Feuervogel“-Suite und „Petruschka“ vorglüht, für Prokofjews 2. Klavierkonzert und das funkelnde, klangfarbenberauschte fis-Moll-Klavierkonzert von Skrjabin, einfühlsam begleitet vom Marinskij-Orchester unter der trittsicheren Leitung von Valery Gergiev.
Dunkelmelancholische Bearbeitungen von Brahms‘ „Vier ernsten Gesängen“
Trifonov will mit diesem Exzess hinter den Horizont, Igor Levit dagegen blickt mit „Encounter“ vor allem nach innen, nach den Monaten mit Corona und viel Stille und vielen Beethoven-Konzerten live, als das erlaubt war. Mit Busoni-Bearbeitungen von Bach-Vorspielen, die er mit freudiger Disziplin als Konzentrationsübungen durchmisst und mehr und mehr als Lektionen einer fast demütigen Bescheidenheit gegenüber der Musik durchhält.
Die nächste vernebelte Spiegelung der Originale sind Regers dunkelmelancholische Bearbeitungen von Brahms‘ „Vier ernsten Gesängen“. Doch auch die sind nur Ouvertüre für Morton Feldmans hauchfeine Meditation „Palais de Mari“, die Levit am Rand des Verstummens verortet, jedem der zerbrechlichen Klang-Partikel nachhorchend. Dieses Album ist weltenweit von Levits Kraftakt der 32 Beethoven-Sonaten entfernt; es ist die stellenweise erschreckende Nahaufnahme einer Künstler-Seele, die im Rampenlicht nach Halt sucht und ihn im Miteinander von Noten, Stille, Klang und Publikum findet.
Pianist als Ein-Mann-Orchester
Die meisten Pianisten haben die üblichen zehn Finger, doch Marc-André Hamelin spielt, als hätte er noch einige mehr in der Hinterhand. Da er es unter Höchstschwierigkeiten nicht macht, ist auch sein neues Album randvoll mit Spezial-Versionen italienischer Opern-Hits, mit denen sich die Über-Virtuosen Liszt und Thalberg bei ihren circensischen Auftritten in Szene setzten. Die beiden waren Konkurrenten und duellierten sich 1837 bei einem Konzert in Paris; Hamelin ist der lachende Dritte, der sich die Rosinen aus deren Repertoire heraussucht.
Die reine, perlende Show, der Pianist als Ein-Mann-Orchester und Opern-Star in Personalunion. Man sollte schwindelfrei sein beim Hören. Wären Stücke wie die monströs schwere Bellini-Bearbeitung „Hexaméron“ – eine Team-Arbeit von Liszt und fünf Tastenlöwen-Kollegen – echte Berge statt nur Notenberge, dann wären sie Neuntausender. Und Hamelin wäre in Rekordzeit ohne Sauerstoff auf diesen Gipfeln.
Gentleman-Virtuose der alten Schule
Ein Gentleman-Virtuose der alten Schule und immer noch Geheimtipp ist Sergei Babayan , bei dessen Unterricht sein berühmtester Schüler Trifonov sechs Jahre lang bestens aufgepasst hat. Für sein Album mit Kompositionen von Rachmaninoff hat Babayan eine facettenreiche Auswahl aus dessen Préludes, einigen „Études-tableaux“ und „Moments musicaux“ zusammengestellt.
Das längste der Stückchen ist noch nicht einmal sieben Minuten kurz, doch so gefühlsprall und sensibel, wie Babayan sie aufglühen lässt, wird aus jedem einzelnen ein kleines, großartiges Gedicht aus rhapsodischem Träumen und melancholischer Weltverlorenheit. Die Aufnahmen entstanden bereits 2009, in der Harburger Friedrich-Ebert-Halle, doch sie sind zeitlos hinreißend. Das ist keine Platte, das ist ein Schmuckkästchen.
Schon das barocke Original ist eine Zumutung, denn Bachs Spätwerk „Die Kunst der Fuge“ dekliniert die Möglichkeiten von Musik mit radikaler Fantasie durch. Das Duo Tal & Groethuysen , seit Jahrzehnten auf Extremherausforderungen spezialisiert, ließ sich von Reinhard Febel eine vielschichtige Version für zwei Klaviere schreiben, die das Ausgangsmaterial noch weiter durchleuchtet und Bachs Original weiterdenkt, es zu einem klug verspielten Dialog werden lässt. Ein wunderbares Update.
CDs:
- Sergei Babayan „Rachmaninoff” (DG, ca. 15 Euro).
- Marc-André Hamelin : „Liszt / Thalberg: Opera Transcriptions & Fantasies” (Hyperion, ca. 14 Euro).
- Igor Levit „Encounter” (Sony Classical, ca. 15 Euro).
- Tal & Groethuysen „Febel / Bach: 18 Studien nach Bachs ,Kunst der Fuge’“ (Sony Classical, ca. 14 Euro).
- Daniil Trifonov „Silver Age“ (2 CDs, DG, ca. 18 Euro).