Hamburg. Hamburgs Kultursenator fragt sich im Abendblatt-Interview, was das Wirtschaftsministerium so tut, und macht unbeirrt Pläne.

Bücher, überall Bücher. Besonders überraschend ist die Kulisse nicht, wenn man dem Kultursenator via Zoom-Interview ins Wohnzimmer schaut. Carsten Brosda, der seine Behörde noch lange vor Ort geführt hatte, ist jetzt also auch zu Hause. Für die gute Sache, versteht sich: Am Ende hilft jede Kontaktbeschränkung, auch die Museen, Theater, Galerien, Kinos und Konzerthäuser wieder zu öffnen. Eines Tages. Bis dahin macht sich der Senator so seine Gedanken über Motivation, Hilfsgelder – und das Bett von John Lennon.

Hamburger Abendblatt: „Ausnahme/Zustand“ hatten Sie Ihr zweites Buch im vergangenen Jahr genannt – ist der Eindruck zutreffend, dass die „Ausnahme“ sich mittlerweile zum „Zustand“ festigt?

Carsten Brosda: Ich hoffe immer noch, dass wir keine dauerhaften Beschädigungen zurückbehalten. Was aber richtig ist: Die Ausnahme dauert inzwischen deutlich länger, als wir es alle miteinander angenommen hatten. Den nächsten Winter werden wir aber hoffentlich nicht genauso begehen müssen wie diesen.

Wenn Sie jetzt schon auf den nächsten Winter hoffen – glauben Sie denn noch, um das Motto des vergangenen Schleswig-Holstein Musik Festivals zu zitieren, an einen Sommer der kulturellen Möglichkeiten ...?

Wir arbeiten darauf hin. Ich habe vor ein paar Tagen mit meiner Wiener Kollegin gesprochen, die im letzten Jahr einen „Wiener Kultursommer“ veranstaltet hat, eine sehr gute Idee. Wir schauen gerade, ob so etwas diesen Sommer auch in Hamburg möglich ist. Wenn wir bis dahin wieder draußen Dinge zeigen können. Wissen, das hat uns dieses Virus gelehrt, kann man leider nichts. Wir wissen zum Beispiel nicht, was mit den Mutationen noch geschieht. Aber wenn wir gut durch die nächsten Wochen kommen, wenn wir die Infektionszahlen senken, haben wir eine plausible Chance. Das Problem ist dabei: Wir machen immer Pläne, und die Pläne beinhalten alles - außer konkrete Termine. Das ist ein unbefriedigender Zustand, aber alles andere wäre unseriös.

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Dazu passt, was John Lennon mal gesagt hat: „Das Leben ist das, was passiert, während du dabei bist, Pläne zu machen“. Verpassen wir beim Warten auf einen Vor-Corona-Zustand – und vielleicht auch: bei der Wut über den verordneten Stillstand – womöglich das Jetzt ...?

Wenn man John Lennon gesagt hätte, dass er nicht mehr auf die Bühne darf, hätte er wahrscheinlich auch zu Hause auf seinem Bett gesessen und sich ausgemalt, wie es wäre, wenn er wieder dürfte  … Vielleicht hätte er zwischendurch ein paar Songs geschrieben. Wäre ja keine unproduktive Variante! Und es passieren ja auch jetzt Dinge, sei es auf den Probebühnen oder auch real: Am Sonntag haben wir zum Beispiel eine wunderbare „Manon“ im Livestream der Oper gesehen.

Mal kostet das Eintritt, mal sind die Streams kostenlos – haben Sie dazu eigentlich eine Position?

Keine abgeschlossene. Aber alles for free ins Netz zu stellen, würde mich mit der Sorge belasten, dass wir danach womöglich dastehen wie in anderen Kreativbereichen. Der Journalismus hatte, nachdem er online lange Jahre nichts von seinen Leserinnen und Lesern verlangt hat, erhebliche Akzeptanzschwierigkeiten. Man muss darauf hinweisen, dass die Produktion auch Geld kostet. Gleichzeitig finde ich es akzeptabel, ein Zeichen zu setzen und in der Sondersituation, in der wir uns befinden, auch mal etwas kostenlos zugänglich zu machen. Aber wenn ich jetzt probe, wenn ich Ausstellungen plane, mache ich das ja nicht ausschließlich für ein digitales Forum, sondern auch unter der Prämisse, dass irgendwann wieder jemand kommt.

Hamburgs Corona-Regeln im Überblick

Die aktuellen Corona-Regeln für Hamburg im Überblick

  • Alle Regeln, die im Rahmen der Eindämmungsverordnung bis zum 10. Januar gelten sollten, werden grundsätzlich bis zum 14. Februar verlängert – ein Großteil des Einzelhandels bleibt geschlossen, bestellte Waren dürfen aber abgeholt werden. "Körpernahe Dienstleistungen" wie Friseure, Nagel-, Massage- und Tattoo-Studios dürfen nicht angeboten werden. Auch Kultur- und Freizeiteinrichtungen bleiben geschlossen, Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit bleibt verboten.
  • Kontaktregeln Angehörige eines Haushalts dürfen sich nur noch mit einer weiteren Person treffen. Ausnahmen für Kinder gibt es nicht.
  • Die Maskenpflicht wird angepasst: Stoffmasken reichen in den meisten Fällen nicht mehr aus. Stattdessen müssen medizinische Masken (mindestens OP-Masken, auch FFP2- oder KN95-Masken sind möglich) getragen werden. Bis zum 1. Februar gilt eine Übergangsphase, danach werden Verstöße mit Bußgeldern geahndet.
  • Kitas und Schulen: Die Präsenzpflicht an den Schulen bleibt aufgehoben, stattdessen soll so weit wie möglich Distanzunterricht gegeben werden. Kinder sollen – wann immer möglich – zu Hause betreut werden. Die Kitas wechseln in die "erweiterte Notbetreuung". Die privat organisierte Kinderbetreuung in Kleingruppen bleibt gestattet.
  • Arbeitgeber sind angehalten, so weit wie möglich ein Arbeiten von zu Hause aus zu ermöglichen. Zusätzlich soll eine neue Bundesverordnung Arbeitgeber dazu verpflichten, Homeoffice anzubieten, so weit das möglich ist. Betriebskantinen dürfen nur öffnen, wenn sie für den Arbeitsablauf zwingend erforderlich sind.
  • Sollte die Sieben-Tage-Inzidenz auf einen Wert über 200 steigen, müsste eine Ausgangsbeschränkung erlassen werden, die den Bewegungsradius auf 15 Kilometer rund um den Wohnort einschränkt. Wie genau diese Regel in Hamburg angewandt würde, ist noch nicht bekannt – der Senat will darüber entscheiden, sollte sich die Inzidenz dem Grenzwert annähern.
  • Senioren- und Pflegeeinrichtungen sollen mehrmals pro Woche Personal und Besucher testen. Das war in Hamburg schon verpflichtend und gilt nun bundesweit.
  • Zwei-Test-Strategie bei Reiserückkehrern aus Risikogebieten: Ein Corona-Test direkt nach der Einreise ist verpflichtend, die zehntägige Quarantäne kann frühestens fünf Tage nach der Einreise durch einen weiteren Test verkürzt werden. Die Kosten für die Tests werden nicht übernommen.

Was wohl noch eine Weile dauern wird ... Inzwischen ist es offiziell: Die Kultur hat in Europa mehr unter der Corona-Krise gelitten als alle anderen europäischen Wirtschaftszweige. Mehr als der Tourismus, mehr als die Automobilindustrie. Wie soll die Kultur sich davon erholen – zumal ein Ende noch lange nicht in Sicht ist?

Wir können versuchen, Schäden an den Infrastrukturen gering zu halten. In Hamburg haben wir im letzten Jahr 90 Millionen allein aus Landesgeldern zusätzlich in die Kultur gesteckt. Eine immense Summe. Auch für dieses und das nächste Jahr steht zusätzliches Geld zur Verfügung, um einerseits abzufedern, was die Pandemie anrichtet, andererseits aber auch Impulse zu setzen, um künstlerische Produktion wieder zu ermöglichen. Das gibt ein bisschen Planungssicherheit, weil wir im Zweifel als Staat reingehen und Lücken auffüllen, wenn zum Beispiel Einnahmen aufgrund der Corona-Beschränkungen zu gering bleiben. Beschädigungen in der mentalen Dimension der Kultur vermag ich, ehrlich gesagt, im Moment noch gar nicht abzuschätzen. Ich nehme wahr, dass die Verwundungen tief sind. Wenn die sich paaren mit materiellen Verlusten, sollte man da nichts beschönigen.

„Jetzt greifen zunehmend die Hilfsprogramme des Bundes auch im Kulturbereich​“, haben Sie erst kürzlich gesagt. Was fraglos schön ist – aber zuerst kamen die Hilfen eben nicht an, zu langsam, zu spät, nicht genug. Wie ginge es besser?

Stimmt ja alles. Dass es zu langsam ist, sieht man daran, dass wir Ende Januar noch darüber reden, wann die Novemberhilfen ausgezahlt werden. Da frage ich mich schon, was das Bundeswirtschaftsministerium da eigentlich macht.

Und fragen Sie da auch mal direkt?

Das macht bei uns vor allem die Wirtschaftsbehörde – regelmäßig. Dann gibt es natürlich immer irgendwelche Gründe … Dabei kann man, wenn man will: Als wir in Hamburg Mitte März die ersten Hilfszahlungen auf den Weg gebracht haben, war Ende März das Formular online. Man muss sich aber auch entsprechend dahinterklemmen. Dass aus dem Finanzministerium jetzt angekündigt wird, einen Wirtschaftlichkeitsbonus für Kulturveranstaltungen und einen Ausfallfonds aufzulegen, an dem wir von Hamburg aus beratend mitarbeiten, ist der richtige Weg. Und dass die November- und Dezemberhilfen auch vielen Kulturschaffenden offenstehen, entlastet auch uns als Stadt und gibt uns die Möglichkeit, andere Lücken vor Ort zu schließen.​

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Wie wird denn der Kulturhaushaltsplan für 2021/22 aussehen, über den ja noch beraten wird? Wer wird sich auf Einsparungen einrichten müssen?

Wir hatten bereits die Beratungen im Kulturausschuss, die im Haushaltsausschuss kommen noch. Der Kulturausschuss sagt ja immer: Da muss mehr hin. Der Haushaltsausschuss hingegen fragt regelmäßig: Ist das wirklich nötig? Das sind ja auch verteilte Rollen. Geschafft haben wir es schon jetzt, dass in diesem Jahr an keiner Stelle gekürzt werden soll. Der Kulturetat wird um zehn Millionen Euro erhöht für die nächsten zwei Jahre. Über das Hamburger Wirtschaftsstabilisierungsprogramm können wir außerdem in Teilbereichen intensiver investieren, beispielsweise beim weiteren Aufbau des Hafenmuseums. Außerdem steht ein mittlerer zweistelliger Millionenbetrag pro Jahr zusätzlich zur Verfügung, um Corona-Schäden abzuwenden. Die Programme, die Perspektive geben, stocken wir weiterhin auf, darunter die Privattheaterförderung oder die Clubförderung.

Ewig wird der Staat das so wohl nicht machen können.

Es wäre unredlich zu behaupten, dass es die nächsten zehn Jahre Manna vom Himmel regnet. Natürlich kommen wir in eine Situation – eigentlich schon mit dem Doppelhaushalt 2023/24 –, in der wir konkrete Fragen beantworten müssen: Wie werden die Kreditaufnahmen zur Bewältigung der Pandemie zurückgezahlt? Wie gehen wir mit einem veränderten wirtschaftlichen Verlauf und dadurch veränderten steuerlichen Einnahmen um? Sicher ist: Es wird Mitte des Jahrzehnts phasenweise schwieriger werden. Umso mehr müssen wir jetzt zusehen, dass wir alle halbwegs unbeschadet bis dahin durchkommen, damit wir die schwierigen Jahre danach besser miteinander bewältigen können.

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Noch hat kein Theater, kein Club die Schließung angekündet. Ist das schon ein Erfolg, mit dem sie in manchen Momenten nicht mehr gerechnet hatten?

Es ist verblüffend, einerseits. Ein Notbetrieb geht andererseits meist mit erheblich gesenkten Kosten einher, die man über Kurzarbeit und Ähnliches teils auffangen kann. Spannend wird es, wenn man da eines Tages wieder rauskommt. Kommt das Publikum wieder, wie lange braucht es, um wieder eine Spannung in den Betrieb zu bekommen? Das hat auch viel mit dem Aufzeigen von Perspektiven und Motivation zu tun. Deshalb brauchen wir auch Antworten auf das Wie der Öffnung, in denen die Kultur mit an den Anfang gestellt wird. Das ist das Mindeste, wenn wir schon das Wann derzeit nur mit „Jedenfalls aktuell leider nicht!“ beantworten können.

Der Theaterregisseur Christopher Rüping, der in Hamburg erst kürzlich die Lessingtage mit einem Live-Stream eröffnet hat, glaubt zum Beispiel nicht an ein Theater, wie es vorher war. Die „Krise der Versammlung“ werde sich nicht auflösen, auch wenn die Leute nach und nach geimpft werden.​ Ist das eine realistische oder eine pessimistische Sicht auf die Dinge?

Ich hoffe mal, eine pessimistische. Es gibt ja beide Denkschulen. Die eine glaubt wie Rüping, die Leute tasten sich nur langsam und vorsichtig zurück ins Leben. Die andere hat Camus in „Die Pest“ aufgezeigt: Es ist irgendwann vorbei, die letzte Verordnung ist gefallen, und es kommt ein orgiastischer Vollrausch. Ich weiß nicht, was passieren wird. Mit jedem Tag, den wir länger darüber reden, dass Impfstrategien nicht funktionieren, dass neue Mutationen auftauchen, wird das Szenario Rüping ein Jota wahrscheinlicher. Wir müssen trotzdem versuchen, uns nicht in einen dauerhaft grüblerisch-pessimistischen Zustand reinzudrehen.

Erst durch die Abwesenheit von Schmerz entstehen Glücksmomente, hat die Schriftstellerin Simone Buchholz in Ihrem Behörden-Podcast gesagt. Es sei allerdings besser, den Schmerz zu kennen und ihn aushalten zu können. Ich finde, das klingt total überzeugend, vor allem mit diesem Nachsatz. Aber: Der Schmerz, den wir jetzt aushalten, als Kunstschaffende, aber auch als Kunstsüchtige, wird zunehmend so ein stiller Schmerz, eine Taubheit und unfreiwillige Nüchternheit. Geht Ihnen das auch so?

Ich merke, dass ich leichter ermüde. In manchen Diskussionen gibt es da eine Ermattung. Aber ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel: Als ich neulich mit Ingo Zamperoni einen Livestream gemacht habe, wo in der Gesprächspause eine Sängerin und ein Sänger aufgetreten sind, hat Zamperoni mir anschließend zugeraunt: „Vielleicht hätten wir doch keine Live-Musiker einladen sollen, da merkt man wieder, wie schlimm es ist, dass man das die ganze Zeit nicht hat!“ Solange so ein Gefühl noch da ist, ist es ausreichend aktivierbar. Wenn ich die „Manon“ am Bildschirm sehe, denke ich: Wie toll wäre es, wenn ich das jetzt im Saal sehen könnte! Wenn das die optimistische Variante ist - Ja! Die Alternative wäre, ganz schlechte Laune zu haben. Wenn ich aber sehe, was in den Theatern an Inszenierungen liegt, welche Ausstellungen darauf warten, besucht zu werden … Was da alles entwickelt wird! Unfassbar viel – und das kommt alles irgendwann auf den Platz ...​

Apropos „Auf dem Platz“: Ihre Mitarbeiter waren lange in der Kulturbehörde, Sie selbst haben das auch so vorgelebt. Hat sich das inzwischen geändert?

Ja. Ich habe es zum Jahresbeginn geändert und bin jetzt auch fast die ganze Zeit zu Hause, sitze mal am Schreibtisch, mal in der Küche und jongliere mit ­Homeoffice und Homeschooling, wie viele andere auch. Wenn dann mal alle Tische belegt sind, sitze ich bei Videokonferenzen auch mal auf dem Bett und male mir nebenbei wie John Lennon aus, wie es wäre, wenn wir wieder dürften, wie wir alle wollen. „Imagine all the people livin’ for today“, hat er mal gesungen – so wollen wir doch alle endlich wieder unbeschwert im Augenblick aufgehen können.