Hamburg. Auch die „Beinharte Bagalutenwiehnacht“ in der Sporthalle fiel dieses Jahr aus. Ein Ortsbesuch an der dunkelsten Ecke von Winterhude.

„Oooooodiiiin!“ – nichts. Keiner antwortet auf den Anruf des Allvaters, aber wer wäre auch so einäugig, hier und jetzt an Winterhudes dunkelster Ecke herumzugrölen: Die Sporthalle liegt Freitagabend einsam und verlassen da, keine Laterne, keine benachbarte Leichtathletikhalle sorgt für Licht, nur der „Sporthalle Hamburg“-Schriftzug und das fahle Mondlicht schimmern um die Wette. Ideale Bedingungen für einen Wikinger-Überfall eigentlich. Aber die Wikinger kommen nicht dieses Jahr.

„Gott schütze uns vor dem Durst der Nordmänner“, beteten die Gastronomie-Crews der Sporthalle mit schlotternden Knien 30 Jahre lang. Denn seit ihrem Comeback mit dem Soundtrack zum „Werner – Beinhart!“-Film 1990 gefiel es den Torfmoorholmer, den aus Hamburg und dem Umland stammenden Folk-Rockern Torfrock, alljährlich die „Beinharte Bagalutenwiehnacht“ zu begehen. Da sangen sie dann „alte wikingische Gesänge und Moritaten“, gaben Gedichte zum Besten, tranken ein Bierchen und freuten sich über alle, die kamen. 7000 waren es, viele mit Plastik-Hörnerhelmen. Ich gehörte auch seit einigen Jahren dazu, und ich weiß nicht mal warum. Aber wer sich an Torfrock-Konzerte erinnern kann, war nicht da.

Neulich in Haithabu saßen wir beim Met und überlegten, dass das so nicht weiter geht.

Freunde von mir waren seit den 90er-Jahren regelmäßig Gäste bei der Bagalutenwiehnacht und erzählten die dollsten Dinge: „Da wird ordentlich gesoffen, bis zum Umfallen und wieder Aufstehen, die Becher werden halbvoll in die Menge geschmissen und irgendwann steht einem die Suppe bis zu den Knöcheln, ach, Knien! Und viel Leder ist da auch, Abordnungen von so Motorrad-Vereinen; wenn du dich da am Bierstand vordrängelst, kriegste einen freundlichen Klaps auf die Kauleiste.“ Und obwohl ich Torfrocks Lieder aus den 70er-Jahren noch aus Kindheitstagen auswendig kannte und auch bereits einige Jahre Wacken Open Air und ähnliche Exzesse auf der Uhr hatte, fand ich diese Hörensagen doch eher abschreckend.

So dauerte es mit meiner Torfrock-Premiere bis 2004, und das unter vermeintlich leichten Bedingungen: Torfrock spielte damals im Stadtpark. „Da kann das Bier besser versickern und die Stimmung ist sicher sommerlicher“, dachte ich mir. Naiv. Schon als ich eine Stunde vor Konzertbeginn in den Stadtpark kam, stapelten sich im Umlauf die Gefallenen. Und sobald Raymond Voß, Klaus Büchner und ihre Bande auf die Bühne kamen, ging das große Vorbeibenehmen los. Ich kauerte zwei Stunden in der letzten Reihe an der Hecke, leise alles mitsingend und auf den Tod wartend, der mich sicher schnell durch einen heransegelnden, halb gefüllten Bierbecher ereilen würde. Torfrock-Fans fischten die vollen Granaten – „RE-NA-TE!“ – übrigens nicht aus der Luft, um sich den Gang zur Tränke zu sparen. Den Grund verschweigt man besser. Ich schlich durchnässt und stinkend wie ein Altglascontainer nach Hause. Nie wieder!

Schumbadibummbumm, schumbadibummbumm, wir ballern hier rum – Horrido!

Aber die Abendblatt-Redaktion, die mich offenbar für entbehrlich hielt, schickte mich später gern auch noch zu den Bagalutenwiehnachten. Ich fand zwar in der Sporthalle beim besten Willen keinen toten Winkel, um den Bierduschen zu entgehen, aber ich gewöhnte mich daran. „Dat matscht so schön!“ Und ich sah, das mehr hinter Torfrock und den Fans steckte, als sich die Lampen auszuschießen. Denn die allgemeine herzliche Geselligkeit, die ich schon als Metalfan schätzte, verknüpfte sich mit norddeutschem Selbstverständnis und einer Mischung aus vorweihnachtlicher Festtagsstimmung und Jahresabschluss. Für viele war es der lauteste Abend des Jahres, bevor „Stille Nacht“ angesagt war. Ra-ta-ta-zong!

Verdammt, diese Schweinebande ist mir tatsächlich ans Herz gewachsen! Im Jahr 2020 hat jeder etwas, was er besonders vermisst. Die Begegnungen, die Freundinnen und Freunde, Verwandten. Das Reisen nach Nah und Fern, die Sorglosigkeit, den Genuss. Gastronomie, Kultur, Unterhaltung, Sport. Alles aus. Als hätte das Leben den Met vergessen. Ich könnte 1000 Dinge nennen, die wichtiger sind als eine beinharte Bagalutenwiehnacht. Aber an diesem nasskalten Freitagabend stehe ich trotzdem an der dunklen Sporthalle, um von diesem verlorenen Konzert- und Festivaljahr Abschied zu nehmen. So wie in den Vorjahren Torfrock zumeist der letzte Höhepunkt aufregender Konzert- und Festivaljahre war.

Mit Wasser im Schuh und Moor im Ohr singen wir zusammen im Torfrock-Chor.

Ich könnte jetzt Raymond in seiner Heimat in Stubben anrufen. Seit zwei Jahren muss der Torfrock-Sänger mit der Schwingschleiferstimme pausieren. Das Herz ist so ein bisschen aus dem Takt. Aber ich träume davon, am 17. Dezember 2021 in die U1 zu steigen, den Pfandautomat-Dunst der Fahrgäste einzuatmen und am Lattenkamp im „Odin!“ brüllenden Mob unterzutauchen. Dann zwei Stunden singen, ein Bierchen trinken und wissen, das es ein gutes Jahr war. Übrigens wird man auch nicht mehr so nass. Bier ist teuer geworden, das Publikum jünger und gemischter und die Band mochte den Pilsregen eh noch nie. Nur auf diesen blöden Plastik-Hörnerhelm, den ich für das Foto ausgeliehen habe, werde ich verzichten. Wikinger hatten keine Hörnerhelme. Wickie lügt!

Torfrock: „31. Beinharte Bagalutenwiehnacht“ Fr 17.12.2021, 19.30, Sporthalle (U Lattenkamp), Krochmannstraße 55, Karten zu 42,- im Vorverkauf; www.kj.de, www.torfrock.de