Hamburg. Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard und Thalia-Chef Joachim Lux über „Kultur für alle“ und Themen mit Shitstorm-Potenzial.
Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard sitzt, so scheint es, mitten im (längst abgerissenen) Ostberliner Palast der Republik. Ein eingeblendeter Bildhintergrund. Joachim Lux steht zeitgleich in seinem Vorgarten. Der ist echt. Beide rauchen. Auch so gehen Interviews in Zeiten der Pandemie – per Zoom-Konferenz. Zwei Hamburger Theatermacher über das Streamen nicht nur als Gesprächs-, sondern auch als Kunstform, Herausforderungen, Selbstüberhöhung und den „elitären Status“ der Bühnen.
Ihre Theater sind und bleiben noch eine ganze Weile geschlossen. Geht man beim zweiten Mal gelassener damit um?
Amelie Deuflhard Es ist nach wie vor gewöhnungsbedürftig, dass man den ganzen Tag arbeitet, sogar richtig viel arbeitet, aber das, wofür man es eigentlich tut, abends dann gar nicht machen darf. Unser Produkt wird zwar noch produziert, aber nicht ausgeliefert. Das Nichtstun macht uns dabei relativ viel Arbeit, weil unser Spielplan so ein Verschiebebahnhof ist.
Joachim Lux Es ist schlimmer, weil die Perspektive fehlt und Rückschläge grundsätzlich kraftraubend sind. Die Resilienz nimmt ab, die Depression zu. Wirtschaftlich gesprochen: Wir haben Überproduktion ohne Abnahmemarkt und Kundennachfrage ohne diese befriedigen zu dürfen – das demotiviert.
Sie gehören zu den Unterzeichnern eines Briefes an den Ersten Bürgermeister, der zwei Schwerpunkte hatte: um die zügige Wiedereröffnung zu bitten – und eine genauere Begründung einzufordern, wenn die Kunst eingeschränkt wird. Welchen Punkt halten Sie für entscheidender?
Lux Der Begründungskontext ist sehr wichtig, er ordnet uns in einer chaotischen Situation ein. Ein großer Teil der Empörung in der Kulturszene hat damit zu tun. Mal wird wirtschaftlich argumentiert, mal ethisch, mal sozial, mal sind die Begründungen echt, mal verdecken sie ideologisch wirtschaftliche Motive. Soll man doch einfach sagen: „Es gilt das Primat der Wirtschaft.“ Passt uns zwar nicht, aber dann weiß man, woran man ist. Im Sommer konnte man in Ferienbombern dicht an dicht sitzen, in riesigen Konzertsälen aber nicht. Museen sind zu, Kaufhaus-Wühltische dagegen offen – solche Beispiele kennt jeder. Die Regelungen um Weihnachten und Silvester aus religiösen beziehungsweise wirtschaftlichen Gründen werden wider besseres Wissen getroffen und führen dazu, dass die Inzidenzzahlen wieder ansteigen und der Lockdown bis mindestens Ende Januar verlängert wird. Ich respektiere, dass all die Wertekonflikte für die Politik unglaublich schwierig sind, überzeugend vermittelt sind sie dennoch nicht. Aber es gibt auch Positives: Wir haben mit unserem Brief sehr deutlich daran erinnert, dass Kunst und Kultur bei den Grundrechten der Verfassung zu verorten sind. Grundrechte kann man nicht einfach wirtschaftlichen Interessen opfern. Im aktuellen Beschlusstext der Kanzlerin ist die Kunst nun – buchstäblich in allerletzter Minute – eine eigene Kategorie, deren Schließung einer besonderen Begründung bedarf! Ein großer Erfolg, den ich mit unserem Brief in Zusammenhang bringe! Nutzt aktuell natürlich nichts, weil der Schutz des Lebens zurecht höher steht. Das gilt aber auch im Verhältnis zu Skiliften.
Deuflhard Die Regeln sind undifferenziert. Das kann man verstehen, weil die Politik halt schnell handeln muss. Da hat man sich diesmal für die Wertschöpfung entschieden. Wobei man da auch ein Fragezeichen setzen müsste, denn die Kultur und die Gastronomie – und beide passen in die Kategorie „Nachtleben“ – produzieren natürlich auch ganz schön viel Wertschöpfung. In Städte, die keine Kultur und keine Gastronomie hätten, kämen auch keine Touristen mehr. Wichtig ist mir vor allem, dass wir nicht auf die schwarze Liste der Hauptverursacher kommen, denn das sind wir tatsächlich nicht. Wenn wir aber immer zu den ersten gehören, die geschlossen werden, entsteht für unser Publikum dieser Eindruck. Politisch produziert. Natürlich sind wir solidarisch in einer Zeit der exponentiell steigenden Pandemiekurve, aber so kriegen wir irgendwann das Problem, dass sich die Menschen gar nicht mehr in geschlossene Räume und größere Gemeinschaften trauen. Wir haben sehr ausführliche Hygienekonzepte erarbeitet und sehr sorgsam umgesetzt, bei drastisch reduzierten Kapazitäten. Das hat gut funktioniert.
„Wir sollten uns nicht hyperüberschätzen“, haben Sie, Amelie Deuflhard, zum Beginn des neuen Theater-Lockdowns gesagt. Das klingt ja fast ein bisschen wie das, was Nordrhein-Westfalens Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen unglücklich formulierte: „Die Kultur muss aufpassen, dass sie nicht immer eine Extrawurst brät.“ Sie hat sich für ihre Wortwahl entschuldigt – an der Sache aber nichts geändert. Wo hyperüberschätzt sich denn aus Ihrer Sicht die Kultur?
Deuflhard Die „Extrawurst“-Formulierung finde ich natürlich totalen Quatsch. Aber wenn dieser zweite Lockdown nicht konsequent umgesetzt worden wäre, wären die Krankenhäuser an ihre Kapazitätsgrenzen gekommen. Deshalb verstehe ich, dass alles, wo Menschen zusammenkommen, erstmal dichtgemacht wird. Eine Paradoxie gab es ja schon vorher: Wir haben immer gesagt: Kommt zu uns in die Veranstaltungen! Die Politik hat gesagt: Bleibt lieber zu Hause! Theater sind Versammlungsorte. Wir wissen doch, dass sich die Besucher miteinander austauschen wollen, dass wir uns nach der Vorstellung auch vor den Türen treffen. Auch wenn sich alle, die zu uns kommen, vernünftig verhalten, erzeugen wir natürlich einen gewissen Traffic. Aber jetzt erwarte ich, dass differenzierte Konzepte erarbeitet werden, dass evaluiert wird, welche Maßnahmen was bringen, welche fehlen.
„Vielleicht sollten wir aufhören mit diesem selbstreferenziellen Diskurs, während um uns herum tatsächlich global wahnsinnig viele Probleme sind“, auch das haben Sie zum Lockdown-Beginn Anfang November gesagt. Ein Satz, für den es vermutlich nicht nur Applaus gab?
Deuflhard Nee, da gab es viel Widerspruch. Einen kleinen Shitstorm! Aber ich denke, es reicht nicht aus, dass wir uns nur um unsere Kunstorte kümmern, während Gesundheitsämter und Krankenhäuser an die Belastungsgrenze kommen und Menschen in vielen Branchen ihre Jobs verlieren. Wir müssen uns auch natürlich auch künstlerisch mit gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzen. Was passiert in der Welt, was passiert in Flüchtlingslagern, wo es ja auch Corona gibt, was passiert in den USA, wo Trump auf den letzten Metern Gesetze so verankern will, dass man sie nicht mehr zurückdrehen kann.
Lux Ich stimme komplett zu. Ein Theaterleiter steht vor der Aufgabe, eine Bühne zu schließen, ein Arzt hat vielleicht den Triage-Fall und muss über Leben und Tod richten. Dieser Wertekonflikt muss eindeutig zugunsten des Lebens und der Gesundheit ausgehen. Das andere Ende der Diskussion ist interessanter: Wenn Silvesterböllerei windelweich erlaubt bleibt, dann bleibt mir angesichts des Mix von Wirtschaft und Populismus die Spucke weg. Warum sollen wir am gleichen Abend, wo erwartbar Tausende herumstromern, nicht ein paar Leuten eine Performance, einen Film oder eine Aufführung zeigen? Das möchte ich ausdiskutieren, parlamentarisch und medial. Der Vorwurf der angeblich larmoyanten Selbstüberhöhung der Kultur ist Unsinn, wenn man den Kontext sieht: Versammlungs- und Meinungsfreiheit sind Grundrechte, aber die Kunstfreiheit ist es eben auch.
Wenn Amelie Deuflhard sagt, dass die Theater jetzt die Zeit nutzen sollten, um ihren „elitären Status“ zu überdenken, schließt das die schmerzhafte Erkenntnis ein, dass es schlicht Menschen gibt, die lieber böllern als einen Kulturort zu besuchen?
Lux Klar, es geht aber nicht nur darum, was wer lieber will, sondern darum, was derzeit verantwortbar ist. Unseren elitären Status reflektiere ich nicht erst seit gestern. Corona hat manches offen gelegt: die soziale Vereinsamung, die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, die Notwendigkeit des Sozialen und gesellschaftlicher Vielfalt. Wir haben die Aufgabe, solche allgemeingesellschaftlichen Themen wieder mehr zu erzählen. Aber: Wir müssen vermutlich für eine höhere Anschlussfähigkeit sorgen, für verständliche Ästhetiken und Erzählweisen. Das geht dann wahrscheinlich eine Zeit lang zulasten von Innovation und Avantgarde, was ich schade finde.
Deuflhard Es gab ja in den 1970er-Jahren mal diese Bewegung „Kultur für alle“. Die ist heute nicht mehr auf eine Weise aktuell, wie sie es damals war. Aber eine entscheidende Herausforderung für die Theater ist, dass wir es wieder schaffen, sowohl im Publikum als auch auf den Bühnen und in der Mitarbeiterschaft, die Diversität der Gesellschaft abzubilden. Wir arbeiten daran, aber das muss beschleunigt werden. Wenn man in die Theater und Museen schaut, sind das immer noch Orte, die vor allem von mehr oder weniger privilegierten weißen Menschen besucht werden. Ich sehe da eine riesige Zukunftsaufgabe. Und genau das meine ich, wenn ich sage, dass wir uns nicht hyperüberschätzen dürfen. Wir erreichen nur einen Teil der Bevölkerung und ich finde es immer gut, wenn man Pausen zum Nachdenken nutzt. Es gibt viele Dinge, die ein enormes Entwicklungspotenzial haben! Ich denke schon auch an den digitalen Bereich, hybride Theaterformen.
Lux Ja, einverstanden. Es gibt zwei Aufgaben: Covid 19 hat Internationalität und Diversität unserer Arbeit unterbunden, statt mit dem „Anderen“ beschäftigen wir uns nur noch mit dem „Nächsten“. Da wirkt das Virus politisch reaktionär. Das müssen wir wieder ein- und zurückholen. Aber Covid 19 stellt uns auch neue Aufgaben.
Bleiben wir mal bei der digitalen Entwicklung. Der erste Lockdown hat hier ein hohes Maß an Aktivität ausgelöst. Jetzt kann man, wie auch sonst in der Gesellschaft, große Müdigkeit beobachten. Trotzdem spielt zum Beispiel das Schauspielhaus „Geister-Vorstellungen“ vor leerem Haus und zeigt das live online. Sie haben sich am Thalia Theater dagegen entschieden. Warum?
Lux Ich möchte nicht einfach die Rezepte des Frühlings wieder aus der Tasche ziehen, sondern kurz innehalten und nachdenken. Wir diskutieren derzeit noch, ob der Live-Stream, den jetzt viele betreiben, eine Notlösung ist oder eine innovative Kunstform – weiß keiner. Wir suchen gerade einen Sonderweg des Analogen und Aktivistischen, mir kommt da immer wieder Christoph Schlingensief in den Sinn. Ich wollte das Theater an allen Adventssonntagen in eine Kirche umwidmen, ging aber nicht, weil unser Gebäude geschlossen wurde, egal in welcher Funktion. (lacht) Schade! Aber wir setzen zum Beispiel am kommenden Sonntag unsere Kooperation mit der St.-Pauli-Kirche fort und werden mit unserer Flüchtlingsinitiative „Embassy of Hope“ Teil eines Gottesdienstes. Wir planen außerdem eine „telefonische Poesieambulanz“, wir denken über „Kultur to go“ nach und wir wollen die höchsten Gebäude der Stadt mit einem „Theater der Lüfte“ erklimmen und bespielen. Dort kann ja kein Publikum hinkommen – und das Ganze wird dann gefilmt...
...und gestreamt!
Lux Ja! Ich gebe es zu. Es sind poetische Zeichen, dass es uns gibt, Signale von Optimismus und Zuversicht, die die Gesellschaft dringend braucht, denn Ihre Beobachtung teile ich: Die Menschen sind müde geworden.
Deuflhard Im ersten Lockdown haben wir alle schnell reagiert und vieles ausprobiert. Diesmal finde ich es richtig, dass nicht alle sofort wieder in Aktionismus ausgebrochen sind. Ich wünsche mir, dass wir nachdenken, wie wir etwas Nachhaltiges schaffen, Konzepte entwickeln, die über die Coronazeit hinaus Bestand haben. Wir waren ohnehin auf dem Weg von der Nahgesellschaft zur Ferngesellschaft, das wird auch der Weg in der Kunst sein. Das ist für Theaterleute wie uns, die wir auf live und analog setzen, nicht so erstrebenswert – aber es ist interessant für die Debatte. Als Erweiterung der Möglichkeiten. Wir hatten gerade ein „Klimaparlament“ auf Kampnagel, das hat als digitale Produktion ganz gut funktioniert, auch unsere Konferenz „Burning Issues“, die am Wochenende vor dem Lockdown noch vor Ort stattgefunden hat und brennende Themen wie Geschlechtergerechtigkeit und Diversität zum Thema hatte, konnte prima parallel gestreamt werden. Wir haben gesehen, dass wir durch ein zusätzliches digitales Angebot auch Zugangsbarrieren abbauen, die uns vorher gar nicht wirklich bewusst waren und wir erreichen dadurch natürlich auch ein Publikum, das nicht lokal ist – das ist schon gut.
Lux Das sind doch Superbeispiele. Obwohl die Nachrichten voll sind mit R-Werten und Infektionszahlen, besteht ihr darauf, dass bestimmte Themen weiter besprochen werden müssen. Das finde ich sehr richtig. Ansonsten glaube ich, dass es leichter ist, Video und Film ins Theater zu transportieren, als Theater hinaus auf den Bildschirm. Aber das Gaming kann ich mir zum Beispiel vorstellen als Element, da kommt jetzt sicher eine höhere Dynamik in unsere Überlegungen.
Deuflhard Wir sind auf Kampnagel gemeinsam mit den Deichtorhallen und dem Chaos Computer Club gerade dabei, ein Projekt zu entwickeln, das „Diversify the code“ heißt, wo es um eine Digitalisierungsinitiative an unseren Häusern geht, aber auch um die Frage: Wer hat eigentlich im Netz was zu sagen? Da ist es nämlich wieder so wie im Rest der Welt. Wir sind auch dabei, unterschiedliche digitale theatrale Formate zu entwickeln. Peter Weibel, selbst Künstler und seit Jahrzehnten Chef am ZKM, dem Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe, sagt, Streaming von Museen und Theater muss das bessere Netflix werden. Daran glaube ich persönlich zwar nicht, aber ich finde es interessant, das als These in den Raum zu werfen.
Gucken Sie selbst regelmäßig digitale Theaterproduktionen?
Lux Ich schon. Nicht so oft, wie ich es mir im Kalender notiere, aber ich tu’s. Man läuft aber Gefahr, mit Irrtümern zu handeln. Ich beurteile eine Aufführung, lasse ihr aber vielleicht gar keine Gerechtigkeit widerfahren. Würde ich dieselbe Vorstellung im Theater sehen, würde ich sie womöglich anders bewerten.
Deuflhard Die Haltung ist eine andere. Wenn ich Theater im Stream anschaue, ist es für mich mehr wie Querlesen. Ich verschaffe mir einen Überblick, sehe mir Vorstellungen auch nicht immer komplett an. Im „richtigen“ Theater würde ich nicht einfach früher rausgehen.