Hamburg. Der neue Krimi des Autors Volker Kutscher um Kommissar Gereon Rath („Babylon Berlin“) spielt im Jahr 1936.
Das haben sie sich so schön ausgedacht, die Nationalsozialisten: die Völker der Welt 1936 zu den Olympischen Spielen nach Berlin einzuladen, die dann eine einzige Propagandashow für das Reich unterm Hakenkreuz werden sollen. Dafür konnten Funktionäre des schon damals reichlich korrupten Olympia-Komitees überzeugt werden. Dafür wird das Hetzblatt „Stürmer“ aus den Zeitungskästen genommen, werden Verbotsschilder für Juden abgeschraubt, dürfen sogar Musikkneipen unbehelligt Jazz spielen. Die ganze Welt soll den Pomp des neuen Reichs sehen, aber auch Zeuge werden, dass dessen übler Ruf nur ein Produkt der ausländischen Lügenpresse ist.
Und dann bricht plötzlich, die Spiele haben noch gar nicht begonnen, mitten im Olympischen Dorf, im Speisehaus der Nationen, ein US-Funktionär tot zusammen. Offenbar ein Giftmord. Ein Gewaltakt bei den Friedensspielen: Das ist unbedingt vor der Weltöffentlichkeit zu vertuschen. Zugleich muss so geheim wie dringlich nach dem Täter gesucht werden, der womöglich weiter morden könnte, um die Spiele in Verruf zu bringen. Allerdings wird zu den Ermittlungen Kommissar Gereon Rath abkommandiert, der nun nicht gerade das ist, was man systemtreu nennen würde.
Die TV-Serie soll 1933 enden, die Romanserie tut dies nicht
Das ist der Ausgangspunkt für „Olympia“, den mit Spannung erwarteten achten historischen Berlin-Krimi von Volker Kutscher. Für Gereon Rath wird es immer enger. Er lebt ja inzwischen auch in einem Paralleluniversum: im Serienhit „Babylon Berlin“, der auf Kutschers ersten Romanen basiert und von dem gerade die dritte Staffel zu Ende ging. Die Serienmacher wollen die Geschichte aber höchstens bis 1933 erzählen, weil mit der Machtergreifung der Nazis das lasterhafte Sündenbabel Berlin unweigerlich zu Ende sei. Über diesen Punkt ist die Romanreihe schon längst hinaus.
Mit jedem Band springt Kutscher, der seine Reihe im Jahr 1929 begann, um ein Jahr. Und erzählt stets einen Kriminalfall, aber wie nebenbei auch, wie der Nationalsozialismus immer stärker wird und das Alltagsleben verändert. Im Roman-Universum haben die Nazis längst die Macht ergriffen und sämtliche Staatsorgane weitgehend gleichgeschaltet. Protagonist Rath fragt sich schon seit geraumer Zeit, wieso er noch kleine Morde aufklären soll, wo die großen Mörder längst das Sagen haben.
Rath muss undercover im Olympischen Dorf ermitteln
Im letzten Roman hat sich Rath dabei noch eher zufällig auf den Nürnberger Reichsparteitag von 1935 verirrt, jetzt muss er undercover im Olympischen Dorf ermitteln. In jedem Roman gibt es ein Schlüsseldatum, auf das die Handlung hintreibt. In Band acht sind es die Olympischen Spiele. Aber diesmal ist man von Anfang an bei dem Großereignis, das Buch ist sogar in drei Kapitel eingeteilt: Citius, altius, fortius, was ja das Motto der modernen Spiele ist: schneller, höher, stärker. Kutscher scheint es allerdings um einen weiteren Komparativ erweitern zu wollen: blutiger.
Die SS wittert einen Anschlag auf das Reich. Und macht gleich einen Kellner im Olympischen Dorf ausfindig, der mal Kommunist gewesen ist. Schon verschwindet der Mann. Die politische Polizei will partout eine kommunistische Verschwörung ausmachen. Und als es weitere Todesfälle gibt, scheint sich der Verdacht sogar zu bestätigen. Auch wenn Rath da auf ganz andere Spuren stößt.
Wie üblich, hat Kutscher wieder akribisch recherchiert und seinen fiktiven Fall in ein historisch absolut stimmiges Setting eingebettet. Bei ihm heißen KZs noch KLs und die Gestapo Gestapa, wie 1936 noch üblich. Der Autor lässt auch das Olympische Dorf wieder auferstehen mit all seinen Widersprüchen: etwa dass dort überall ein Alkoholverbot galt, nur nicht im Besucherrestaurant, das deshalb immer überfüllt ist, auch von Sportlern. Rath muss nicht nur ein Büro auf dem Gelände beziehen. Er wird mit seiner Frau Charly auch bei der Eröffnungsfeier dabei sein, nicht unweit der Ehrenloge, in der sich Adolf Hitler feiern lässt. Und beide werden, entsetzt darüber, wie sehr die Spiele zur Propaganda-Verehrung missbraucht werden, das Olympiastadion fluchtartig verlassen.
Rath gerät immer stärker in die Mühlen des Systems
Aber auch Fritze – ihr einstiger Ziehsohn, den sie buchstäblich aus der Gosse geholt haben, der aber in Band sieben wegen ihrer politischen Unzuverlässigkeit an eine stramme Nazi-Familie übergeben wurde –, auch Fritze darf sich bei den Spielen aufhalten, darf als Musterknabe der HJ die weiße Uniform des Jugendehrendienstes tragen. Darf den amerikanischen Sport-Assen Jesse Owens und Dave Albritton dienen, auch wenn die anderen Hitlerjungen sie als „Neger“ beschimpfen. Fritze läuft auch mal Leni Riefenstahl durchs Bild, die hier ihren „Olympia“-Film dreht und ihn harsch verscheucht. Vor allem aber wird Fritze direkter Zeuge, als das Opfer im Speisehaus zusammenbricht. Er hat Dinge gesehen, die nicht zur Verschwörungstheorie der Nazis passen. Weshalb auch er zunehmend in Gefahr gerät.
Die Schlinge zieht sich enger und enger um die Protagonisten der Buchreihe. Charly war von Anfang an klar gegen die Nazis. Weil sie als Frau nicht mehr bei der Kripo arbeiten darf, ist sie jetzt für eine Detektei tätig und verhilft Ausreisewilligen zur Flucht. Und überlegt mehr denn je, ob sie und Rath nicht auch fliehen sollten, solange das noch geht. Denn Rath gerät immer unheilvoller in die Mühlen von Gestapa und SS. Und Kutscher spitzt das Dilemma in „Olympia“ so zu, dass es danach eigentlich nicht mehr weitergehen kann mit Rath-Krimis in Berlin. Tatsächlich hatte der Autor seine Reihe erst nur bis 1936 geplant. Später erklärte er, er wolle sie noch bis 1938, zur Pogromnacht, fortführen, die Kriegsjahre aber nicht mehr schildern. Auf Nachfrage beteuern Autor wie Verlag, dass es weitergehen soll. „Olympia“ endet jedoch so ausweglos, dass es wirklich spannend wird, wie Kutscher da weitermachen will.