Hamburg. Mit Kino-Prominenz, Bürgermeister Peter Tschentscher und klaren Worten trotzt das 28. Filmfest Hamburg der Pandemie.
„Alles ist Film!“ Was Rainer Werner Fassbinder (Oliver Masucci) in einer Szene des Eröffnungsfilms „Enfant terrible“ da bei einem seiner zahlreichen Wutanfälle brüllt, könnte man vielleicht als Motto über das 28. Filmfest Hamburg stellen, das am Donnerstag im Cinemaxx Dammtor eröffnet wurde. Aber die Corona-Krise hat so einen absoluten Anspruch längst relativiert.
Bis zum 3. Oktober werden in fünf Kinos rund 70 Filme gezeigt. Die Gäste, darunter Victoria Trauttmansdorff, Oliver Masucci, Lars Becker und Hermine Huntgeburth, schritten vorher über einen aus Hygienegründen deutlich verkürzten roten Teppich und hielten in den Kinos Abstand voneinander. Die Schauspieler Brigitte Janner und Gustav Peter Wöhler schrieben trotzdem Autogramme.
Fassbinder-Schwerpunkt zum Auftakt des 28. Filmfests Hamburg
Los ging es mit einem Fassbinder-Schwerpunkt. Der Eröffnungsfilm lief am Dammtor gleich in drei Sälen. Die Eröffnungszeremonie, die Meret Becker musikalisch begleitete, wurde auch ins Abaton, Studio, Metropolis und Passage übertragen. Danach lief in diesen Kinos jeweils ein Film aus dem reichhaltigen Fassbinder-Œuvre: „In einem Jahr mit 13 Monden“, „Lola“, „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ und „Querelle“.
„Enfant terrible“ von Oskar Roehler widmet sich dem Leben von Fassbinder, einem Film-Berserker, der frischen Wind in die angestaubte deutsche Kinolandschaft brachte. Der 1982 gestorbene Schauspieler, Drehbuch- und Theaterautor, Regisseur, Produzent und Cutter lebte und arbeitete ohne Rücksicht auf Verluste, schwankte dabei zwischen Weinerlichkeit und Selbstbewusstsein.
Zu einer seiner Freundinnen sagt er: „Ich bin die intensivste Beziehung, die du je haben wirst.“ Seine Mitarbeiter und schwulen Liebhaber quälte er manchmal bis aufs Blut. Seine Kreativität war ebenso enorm wie sein Drang nach Drogen. Die Anerkennung wuchs beständig, auch im Ausland konnte er Erfolge erzielen. Am Ende wollte ihn sogar Andy Warhol treffen.
"Enfant terrible" – Sexszenen im Fassbinder-Film könnten für Diskussionen sorgen
„Mein Tag hat 26 Stunden“, sagt Workaholic Fassbinder im Film. Aber vielleicht haben wir ihn auch verkannt. „Ich wäre immer gern eine große Blondine mit Pfirsichhaut gewesen“, vertraut er einer Freundin an. Die offensiven Sexszenen im Film könnten für Diskussionen sorgen. Der Film ist erst ab 16 Jahren freigegeben. Nicht alle Mitglieder der Fassbinder-„Familie“ agieren unter ihren Klarnamen. So heißt Hanna Schygulla hier Martha – um rechtliche Probleme zu vermeiden. Roehlers Biopic hätte eigentlich im Wettbewerb des dann ausgefallenen Festivals in Cannes laufen sollen. Neben Masucci spielen unter anderem Katja Riemann, Eva Mattes, Alexander Scheer, Lucas Gregorowicz, Sunnyi Melles, Désirée Nick und Antoine Monot, Jr.
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Filmfest-Chef Albert Wiederspiel begrüßte Regisseur Roehler und sein Filmteam. Auf die Frage, wie es sich anfühle, wieder zu einem Filmfestival zu kommen, sagte der Berliner: „Ich weiß es, ehrlich gesagt, gar nicht, bin aber neugierig, wie das wirken wird. Natürlich interessiert mich auch die Rezeption des Films, wenn man so weit auseinander sitzt. Ich finde, es ist eine enorme Kraftanstrengung, trotz all dieser Auflagen so ein Festival einfach zu machen. Das finde ich toll. Welche Erfahrungen ich dabei machen werde, kann ich nicht sagen.“
Albert Wiederspiel: "Nie waren wir so stolz wie in diesem Jahr"
„Mir sejnen do!“, sagte Wiederspiel in seiner Rede und setzte mit der Textzeile aus einem jiddischen Lied ein trotziges Lebenszeichen in Krisenzeiten. „Nie waren wir so stolz wie in diesem Jahr, dass wir ein Filmfest auf die Beine gestellt bekommen haben“, fuhr er fort und erinnerte an die mutigen Frauen in Minsk, das Elend der Bevölkerung von Beirut und die Menschen im Lager Moria.
Fassungslos zeigte sich Wiederspiel, wie ihm der Bundestagsabgeordnete seines Wahlbezirks Christoph de Vries (CDU) auf einen Brief geantwortet hatte: Flüchtlingspolitik müsse man nicht nur mit dem Herzen, sondern auch mit dem Verstand machen. Er entgegnete: „Wie froh bin ich, dass ein Herr de Vries vor 51 Jahren nicht über die Zukunft meiner Familie zu entscheiden hatte.“ Die Wiederspiels mussten damals wegen des zunehmenden Antisemitismus von Polen nach Dänemark auswandern.
Carsten Brosda: Das Kino lebt trotz Corona
Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) erinnerte an die gezielte Unterstützung durch die Stadt, sagte aber auch, das Publikum müsse das Kino „auch unter den Bedingungen des Infektionsschutzes annehmen“, so Tschentscher. „Der Lockdown hat gezeigt, welche Lebensqualität uns fehlt, wenn Kinos, Theater, Konzertsäle und Museen nicht geöffnet sind. Wenn wir Hygieneregeln einhalten, ist es gut möglich, das öffentliche Leben, die Bildung und die Kultur wieder zu aktivieren. In diesen schwierigen Zeiten ist das Filmfest Hamburg wie ein Leuchtturm.“
Kultursenator Carsten Brosda (SPD) sagte vorab: „Das Filmfest Hamburg präsentiert uns in den kommenden Tagen allerbestes Weltkino und zeigt, dass das Kino trotz Corona lebt. Damit es aber auch überlebt, braucht es Veranstaltungen wie das Filmfest Hamburg, die von der Leidenschaft für den Film leben. Das Filmfest öffnet das Fenster in die große Welt und entführt uns in andere Realitäten – trotz aller Reisebeschränkungen also die Gelegenheit für filmische Kurzurlaube rund um den Globus.“ Das sonst übliche Fest im Anschluss an die Filmfest-Eröffnung fiel in diesem Jahr aus.