Hamburg. Pianist Pierre-Laurent Aimard und das Mahler Chamber Orchestra begeistern mit Werken von Ravel, Janácek und Benjamin.

Wie lange wird das noch so gehen, dass sich ein Konzertbesuch anfühlt wie eine ganz neue Erfahrung? Dass man zusammenzuckt bei dem Anblick der vielen leergebliebenen Plätze? Dass das Fehlen der Sitznachbarn eine Art Phantomschmerz verursacht?

Seltsam, dass wir uns noch vor wenigen Monaten über Huster und Dazwischenklatscher ernsthaft erregen konnten. Wie kostbar ein kollektives Erleben ist, wird uns erst jetzt bewusst, wo wir uns aus der kulturellen Schockstarre lösen und uns eine „neue Normalität“ erwerben müssen.

Für die Musiker rührt diese Corona-Normalität an Grundfesten. Musizieren braucht Nähe, feinstoffliches Zusammenschwingen. Das wird durch jeden zusätzlichen halben Meter Abstand erschwert. Gelegentlich wird spekuliert, Bläser würden unbewusst lauter spielen, wenn sie von ihren Kollegen weiter entfernt säßen.

Die Kunst eines schier grenzenlosen Pianissimo

Vom Mahler Chamber Orchestra kann man das nicht behaupten. Das Luxus-Ensemble, eine Gründung des unvergessenen Dirigenten Claudio Abbado, hat jetzt im Großen Saal der Elbphilharmonie die Kunst eines schier grenzenlosen Pianissimo vorgeführt.

Wie leise kann man spielen, so dass der Klang nur noch eine Ahnung ist? In der Elbphilharmonie natürlich sehr, sehr, sehr leise. Und das kosteten die Musiker unter der Leitung von George Benjamin, weidlich aus. Am Anfang von Maurice Ravels Suite „Ma mère l’oye“ waren Hörner und Piccoloflöte nur als Schimmer präsent.

Viel Witz und Geist, keine Sentimentalitäten

Ravel hat das Stück, ursprünglich für Klavier vierhändig geschrieben, eigenhändig orchestriert. Sieben Sätze lang konnte das Publikum gleichsam ins Atelier des Farbzauberers schauen. Dass es gerade mal 40 Musiker waren, die sich über die Bühne verteilten, war vergessen. Sie atmeten und phrasierten so fein zusammen, dass der Klang wirkte wie mit einem Goldstaub aus Obertönen überhaucht. Wer braucht da noch schnöde Lautstärke?

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Für die erste Konzerthälfte – wenn ein pausenloses Konzert denn eine erste Hälfte haben kann – war der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard angereist. Aimard ist ein begnadeter Vermittler von Neuer Musik. Und so wie er Ligeti oder Boulez zum Erzählen bringen kann, so meißelte er auch das ungeheuer Moderne aus dem „Concertino“ von Leos Janácek von 1926, immer im Dialog mit den sechs Orchesterinstrumentalisten. Viel Staccato, viel Witz und Geist, keine Sentimentalitäten.

Konzertminiatur kam einer Naturerfahrung gleich

Wesentlich klangsinnlicher wirkte George Benjamins „Duet“, geschrieben 2008, für Klavier und Orchester (ohne Geigen). Der Dirigent des Abends ist nämlich auch ein kapitaler Komponist; in Hamburg hatte er vor eineinhalb Jahren eine Elbphilharmonie-Residenz, und die Staatsoper brachte seine jüngste Oper „Lessons in Love and Violence“ zur deutschen Erstaufführung.

Dieser Konzertminiatur mit ihren Regentropfenklängen, ihren wüsten Solopassagen und ihren wie aus weiter Ferne herüberwehenden Bläsermelodien zu lauschen kam einer Naturerfahrung gleich.

Ein tiefer Eindruck. Und wie lädt man Applaus in einem weniger als halbvollen Saal mit der gehörigen Intensität auf? Auch das werden wir noch lernen.