Hamburg. Brahms mit Balance-Unwucht: Trotz Alan Gilberts Mühe, wirkte der erste Teil des Konzerts wie entkoffeiniert. Doch dann kam Prokofjew.

In Brahms’ Erster spielt hin und wieder auch ein Kontrafagott, neben und mit vielen anderen Schallwellenquellen. Das konnte man wissen, schon in den zahllosen regulären Aufführungen, die es bis März 2020 gegeben hatte, konnte man es sehen, groß genug ist es ja. Bei der Aufführung in der Hamburger Elbphilharmonie am späten Mittwoch, als NDR-Chefdirigent Alan Gilbert seinen Saisonstart-Zyklus der vier Sinfonien mit dem Erstling in die zweite Runde gehen ließ, war es anders.

Da war dieses Instrument mit seinen kohlenkellertiefen Tönen auch in Nicht-Solo-Momenten ein gut wahrnehmbarer Solist des Stücks, weil das Klangpanorama durch die großen Abstände von Pult zu Pult sehr weitwinkelig wirkte und die Balance-Unwucht immer wieder zu überraschenden Ausgleichsanstrengungen des Dirigenten führte.

Lisa Batiashvili spielt ein starkes Prokofjew-Konzert

Neue Sinfonie also, auch noch aus einer anderen Hörperspektive verlebt, aber die gleichen Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Fast jedenfalls. Doch es gab, nach dem angestrengten, anstrengenden Start in diese Spielzeit, auch Steigerungen ins ungetrübt Schönere.

Denn im vierten und letzten Durchgang mit dem 1. Prokofjew-Konzert hatten sich die Solistin Lisa Batiashvili und das ganz auf Durchlässigkeit ausgerichtete Tutti hörbar besser mit den Gegebenheiten auf der Bühne des Großen Saals angefreundet als bei der Premiere.

Gilbert nahm das ohnehin delikat zu führende Klein-Orchester weit zurück, Batiashvili konnte ihren Teil des Stücks über die Begleitung hinweg fliegen und wirken lassen. Große, leichte Eleganz, die großartige Impuls-Kontrolle voraussetzte und erhielt. Was letztlich zeigt: Guter Wille ist das eine, um sich mit der Situation zu arrangieren. Passendes Repertoire ist das andere.

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Das Grund-Dilemma in der Ersten, das sich schon im Vorspann des ersten Satzes andeutete und bis ins triumphale Finale seinen Weg durchs Tutti bohrt, das konnte Gilbert erneut nicht abarbeiten: Das Stück, so gespielt, ist nicht immer sicher in der Spur; der wuchtige, zerklüftete Grundpuls, mit dem der Kopfsatz beginnt, bleibt Hilfsmotor.

Verträumt gemeinte Bläser-Dialoge werden zu Fernbeziehungen

Nachdem Gilbert es in der Zweiten mit Offenheit versucht hatte, ging er nun mit mehr Kantigkeit und sehr klar abgewinkelten Übergängen ans Werk. Lücken, die sich bei zwangsverkleinerter Besetzung nun mal nicht mit personalintensivem Streicher-Wohlklang schließen lassen, wurden zum Charaktermerkmal umgewidmet.

Keine schlechte Idee, an sich, doch das machte Brahms’ feinherbe Schönheit etwas verkniffener, als sie ist. In den Mittelsätzen wurden immer wieder verträumt gemeinte Bläser-Dialoge zu Fernbeziehungen und nicht zu Schicksalsgemeinschaften.

Das „grazioso“ im dritten Satz tat sich entsprechend schwer. Und auch die prächtigen Momente im letzten Satz, die weit aussingenden Melodien, die choralartigen Passagen der Hörner und Posaunen, überhaupt: das ganze große Ganze, mit dem Brahms ans Gemüt packt, wenn sich die Wolkendecke öffnet – all das wirkte, trotz Gilberts gut gemeinter Mühe, wie entkoffeiniert. Dennoch und weil es trotzdem so schön war, sich und dem Stück wiederzubegegnen, war der Beifall enorm. Denn auch so kann und muss man Brahms natürlich lieben.

Nächste Termine: Freitag, 18.30/21 Uhr: Prokofjew-Violinkonzert Nr. 2 und Brahms 3. Sinfonie, im zweiten Durchgang Brahms 4. Sinfonie. Leonidas Kavakos (Violine). Evtl. Restkarten. Der Saisonstart mit Prokofjew 1 und Brahms 2 ist auf www.elbphilharmonie.de als Stream abrufbar.