Hamburg. Jazztrio um Julia Hülsmann spielt im Großen Saal und erinnert an den Karrierestart der Beatles. Die Bilanz ist entscheidend.
„Das Geräusch gerade, das haben wir echt vermisst“, sagt Julia Hülsmann. Sie meint den Applaus, der im Großen Saal der Elbphilharmonie aufbrandet, nachdem die Pianistin am Sonntagabend gemeinsam mit Posaunist Nils Wogram und Vibrafonist Christopher Dell das erste Stück beim ersten Testkonzert vor Publikum gespielt hat: „Eleanor Rigby“, Auftakt zu einer Beatles-Hommage, die bereits vor einer Woche hätte stattfinden sollen, doch eine irrtümlich ausgelöste Nebellöschanlage sorgte wenige Stunden vor Beginn für die Absage.
Mehr als fünf Monate ist es nun her, dass das Trio des Pianisten Brad Mehldau am Tag vor dem Lockdown das letzte Konzert im Großen Saal spielte. Vor bereits deutlich ausgedünnten Besucherreihen – so mancher wollte Mitte März kein Risiko mehr eingehen. Jetzt also der Neustart. Ebenfalls mit Jazz. Vor weniger als einem Drittel des eigentlich möglichen Publikums, mit großen Sicherheitsabständen, mit Maskenpflicht in der „Tube“ und auf den Treppen.
Im Großen Saal husten? Das traut sich niemand mehr
Die Garderoben sind geschlossen, die Schalen mit Hustenbonbons weggeräumt – aber es traut sich inzwischen ohnehin nahezu niemand mehr, im Saal zu husten. Programmhefte werden nicht verteilt, sondern liegen aus. Jede zweite Sitzreihe ist gesperrt, jeweils zwei leere Plätze trennen die kleinen Besuchergruppen von meist zwei, manchmal vier Personen.
Enorm viel Elbphilharmonie-Personal steht bereit, um eventuelle Fragen zu beantworten und dezent die Einhaltung der Corona-Regeln zu überwachen. Doch Maskenverweigerer sind hier nicht zu finden, im Gegenteil: Nahezu sämtliche Besucher tragen Mund-Nasen-Schutz auch in den Foyers, obwohl das nicht vorgeschrieben ist, und mancher nimmt ihn selbst auf seinem Platz nicht ab.
Mindestabstand in der Elbphilharmonie – kein Problem
Die technischen Abläufe sollen an diesem Tag gründlich getestet werden, bevor es mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester unter Alan Gilbert am 1. September dann richtig losgeht. Der erste Eindruck: Es läuft alles rund. Keinerlei Gedränge auf der Rolltreppe oder an den zahlreichen Zugängen zum Saal, überall Desinfektionsmittelspender, und auch auf der Plaza, die ohne Corona an einem Sommersonntag mächtig gefüllt wäre, ist es kein Problem, den Mindestabstand einzuhalten. Der frische Wind, der um die Nase weht, sorgt für ein zusätzliches Anti-Aerosol-Sicherheitsgefühl.
Ein wenig seltsam ist es natürlich, den früher stets proppevollen, vor Vorfreude vibrierenden Saal so leer zu erleben. Nur wer hier Extremes wie den Abend mit Avantgardist John Zorn im März 2017 (Dauer: fünf Stunden) oder den Sorabji-Orgelmarathon im September 2019 (Dauer: mehr als acht Stunden) erlebt hat, kennt diesen Blick in weitgehend leere Ränge, auf denen sich 500 bis 600 Besucher verteilen.
Lesen Sie auch:
- Elbphilharmonie sagt Testkonzerte ab – aus kuriosem Grund
- Erster Beifall nach Monaten – ein sehr berührender Moment
Auftritt erinnert an den Karrierestart der Beatles in Hamburg
Und doch gilt an diesem besonderen Tag: Wer auf Einladung der Elbphilharmonie gekommen ist, ist erst einmal einfach froh, endlich wieder ein Live-Konzert zu erleben. Ganz besonders, wenn es sich um einen Auftritt dieser Klasse handelt, der an den Karrierestart der Beatles vor 60 Jahren im Hamburger „Indra“-Club erinnert. Songs der Fab Four (die damals noch zu fünft waren), zu covern, ist ja nichts Neues und die Gefahr, gepflegt zu langweilen, groß. Nicht in diesem Fall.
Die Arrangements von Klassikern wie „Norwegian Wood“, „Paperback Writer“ oder „Blackbird“ sind innovativ, manchmal braucht es gar mehr als nur einen Moment, um das Original zu erkennen. „Yesterday“ klingt einen Tick nachdenklicher als gewohnt, und die Zeile „Yesterday, all my troubles seemed so far away“ wirkt unter den Corona-Umständen ganz anders nach.
„The Long And Winding Road“ spielt Julia Hülsmann solo am Steinway, verzögert immer wieder leicht, löst die Spannung dann und lässt das Herz tatsächlich ein wenig schwer werden – irgendwie schön und traurig zugleich. Bei „Can’t Buy Me Love“ hingegen ist große Experimentierfreude zu spüren, vor allem wenn Posaunist Nils Wogram und Vibrafonist Christopher Dell einfach mal sämtliche Sicherheitsgurte lösen und den Nummer-eins-Hit des Jahres 1964 vehement in Richtung Neue Musik treiben.
Sehnsucht nach Nähe ist auch im Konzertsaal groß
Das letzte Stück vor der heftig erklatschten Zugabe passt dann perfekt zum Anlass und ist wohl auch als Hoffnungsspender gemeint: „Come Together“, gespielt als Hymne an das Zusammengehörigkeitsgefühl, Ausdruck der Sehnsucht nach Nähe auch in Zeiten des Mindestabstands. Wieder zusammenkommen, das wollen hier alle nach den langen Monaten des Stillstands, nicht mehr Internet-Streams schauen, sondern das Live-Erlebnis spüren. So wie an diesem Sonntagabend, der natürlich in die Geschichte des Konzerthauses eingeht.
Es ist das von Intendant Christoph Lieben-Seutter bei seiner kurzen Begrüßung avisierte „entspannte Konzerterlebnis“ geworden, mit dem die Elbphilharmonie ihre Pandemie-Tauglichkeit bewiesen hat. Ein gelungener Testlauf für eine Saison, die natürlich nicht „normal“ sein kann, in der aber vielleicht doch Stück für Stück ein wenig Normalität einkehrt. Nicht nur in der Elbphilharmonie.