Salzburg. Alles eine Nummer kleiner diesmal bei den Salzburger Festspielen. Ein Ausnahmezustand-Sommer mit gemischten Gefühlen.
„Enjoy the performance!“, wünscht die Stimme von Tobias „Jedermann“ Moretti dem internationalen Premieren-Publikum in der Felsenreitschule vom Band. Sagt sich nicht ganz leicht in diesem Ausnahmezustands-Sommer bei den Salzburger Festspielen, außerdem: So viele Auswärtige und Bestbetuchte wie sonst sind es diesmal nicht. Für vieles gibt es, anders als sonst, durchaus noch Tickets, im Kartenbüro geht es hoch her.
Vieles ist einige Nummern kleiner, nichts wie vorher, bei diesem Spezial-Programm. Ausweiskontrolle am Einlass, auch das eine Premiere, dann aber könnte jeder eigenunverantwortlich drängeln, so viel er möchte, bis er auf einem der schachbrettartig angeordneten Sitzplätze ankommt, 1000 von 2200 wurden vergeben.
Weil die Stamm-Motive Maske zu Smoking und Abendkleid tragen, haben die Promi-Fotografen ihre liebe Not, den Konzern-Lenker vom Autohaus-Chef zu unterscheiden. Durchs Foyer huscht, vermummt noch unerkannter als sonst, Intendant Markus Hinterhäuser, der weiß, wie viel hier für viel mehr als einzig seine Festspiele auf dem Spiel steht. Denn Salzburg ist einen Monat lang stellvertretend für alle Festivals, Theater, Orchester und Opernhäuser tapfer, die verstummt sind oder stummgeschaltet wurden. Ein Versuchsballon mit Absturz-Risiko. Was hier passiert, wie auch immer, wird europaweit Folgen haben.
Igor Levit kommt einem fröhlich entgegen
Andererseits: Manche Dinge bleiben in Salzburg festspielig schön und persönlich wie immer. Am Nachmittag hörte man aus den Fenstern zum Toscaninihof Sopranistinnen beim Einsingen. Kamera-Teams bauten sich für möglichst gute Blickwinkel auf. Und da die klassische Musikwelt hier so klein ist, spazierte einem vor dem Festspielhaus Igor Levit entgegen, gerade angekommen und so was von vorfröhlich, einen Tag, bevor er hier sein erstes von acht Beethoven-Klaviersonaten-Konzerten im „Haus für Mozart“ geben kann. Alle Mitwirkenden sind mächtig froh, die Stadt lebt mit, wegen und von Kultur. Die Gefühle sind dennoch gemischt und nicht ungetrübt.
Doch dann beginnt es drinnen, weil der 100. Geburtstag trotzdem gefeiert werden soll, mit der „Elektra“, einem Erbstück der Festspielgründer Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal. Kurz genug, um ungekürzt und ohne Pause auszukommen. Der praktischerweise riesige Orchestergraben ist bis zum Anschlag mit Wiener Philharmonikern gefüllt, die gesamte Produktion war wochenlang unter strengster Beobachtung für die Proben weggesperrt. Das Saallicht verdunkelt sich, Zikaden zirpen laut aus den Lautsprechern, Griechenland also, Mykene.
Geistesabwesend in der Breitwand-Kulisse
Doch kein antikes Sandalendrama wird nun gegeben, der Trojanische Krieg ist szenisch epochenweit weg. Stattdessen stellte Regisseur Krzysztof Warlikowski seine Version des mörderischen Rache-Dramas in eine postmodern kühle, karge Loft-Leere, in der sich kaum jemand berührt oder wenigstens auf kurze Distanz anbrüllt. Als Einstimmung schnauft Tanja Ariane Baumgartner als Königin Klytämnestra wütend einen frei dazuerfundenen Prolog ins Mikro.
Als erklärendes „Was bisher geschah…“ für Antike-Anfänger berichtet sie, wie sie und ihr Geliebter Ägisth den König Agamemnon dahinmetzelten. Danach bleibt sie auf sehr hohem Niveau solide. Währenddessen kauert Elektra, schon jetzt eine Prinzessin sehr nah am Rand eines finalen Nervenzusammenbruchs, geistesabwesend in der Breitwand-Kulisse.
Ausrine Stundyte hat an diesem Premieren-Abend hörbar Respekt vor ihrer Partie; die Stimme ist manchmal eng und zu glanzarm, um sich gegen die kräfteverbrennenden Aufgaben und erst recht das Orchester durchzusetzen, erst in der Schluss-Szene ist sie packend außer sich. Am Dirigenten Franz Welser-Möst liegt das nicht. Er zaubert, nicht zum ersten Mal in Salzburg, einen streichzarten, brettharten Strauss-Genuss aus dem Tutti, der umwerfend ist, feingezeichnet, bis ins Gröbste klar durchhörbar und formvollendet. Mal modelliert er Kammermusik in XL, dann funkelt ein Hauch von „Rosenkavalier“-Wohlklang durch den wunderbaren Lärm.
So ziemlich jede wünscht hier jeder den Tod
Die Reste dieser schrecklichen Familie hat Bühnenbildnerin Malgorzata Szczesniak in eine blutigrot beleuchtete Einliegerzelle platziert. Ausstellungsstücke des Psycho-Terrors unter Frauen, weil so ziemlich jede jeder hier den Tod wünscht, durchdreht oder beides. Die eigentliche, größte, tollste Abräumerin dieses protestlos gefeierten Opern-Abends ist die andere Prinzessin: Asmik Grigorian als Chrysothemis.
Jene Sängerin, die 2018 auf dieser Bühne als Salome unfassbar sensationell war und zum Star wurde. Dass Warlikowski/Szczesniak sie mit Amy-Winehouse-Gedächtnisfrisur und bauchfreiem Silber-Kostümchen ausstatteten, wäre für ihren Aufmerksamkeitsmagnetismus nicht nötig gewesen. Schon mit dem ersten Auftritt, einem coolen kleinen Winken nur zur Schwester, regelt sie klar die Rangfolge.
Wo Grigorian singt, egal, was oder wie wenig, ist sofort vorn – und Elektra ist fast immer abgemeldet. Zweiter größerer Aktivposten ist Derek Walton als Orest. Für die Rachemorde an Klytämnestra und Ägisth vertraut Warlikowski vor allem aufs Kopfkino. Dazu wird tarantinoesk ein riesiger Blutschwall mit hungrigen Fliegen auf die Arkadenwand projiziert, bevor Elektra, die sich gerade noch mit Tabletten umbringen wollte, ihren letzten Tanz beginnt und Orest, ebenfalls irre geworden, vor dem Graben aus dem Bild wankt. Ein „Elektra“-Konzept, das nicht stört und nicht verstört. Der Beifall gilt dem Drama-Ensemble, aber auch den dramatischen Umständen.