Hamburg. Trotz Corona-Pandemie sollen die Festspiele am 1. August starten. Ein Gespräch mit Intendant Markus Hinterhäuser über den Drahtseilakt.
Die Telefonanlage ist in die Knie gegangen. Normalerweise wäre das bei einer Institution wie den Salzburger Festspielen kurz vor dem Start kein Grund zur Freude. Doch am ersten Tag nach Beginn des neuen Karten-Verkaufs für die Corona-Ausgabe des wichtigsten Klassik-Festivals der Welt sind schwächelnde Leitungen wohl auch ein gutes Signal: Es geht voran, obwohl das erste Jubiläums-Programm zum 100. Geburtstag von Corona aus dem Fenster geworfen wurde. Das Publikum will offenbar auch zur neuen, drastisch eingedampften Version kommen können, trotz allem und jetzt dann doch erst recht.
„Tja, wie soll’s einem gehen…“ ist einer der ersten Sätze, mit denen sich Intendant Markus Hinterhäuser telefonisch aus seinem Büro meldet, verbunden mit einem von einigen Seufzern, die noch folgen. 240.000 Karten hat er nicht verkauft, sondern zu drei Vierteln „rückabwickeln“ müssen, einen kompletten Festspiel-Sommer vergeblich geplant; er hat vieles streichen müssen, einiges ließ sich vertagen. Und nun, neben dem Druck, das andere trotz der lähmenden Pandemie durchziehen zu sollen, auch noch die Beobachtung durch die gesamte Kultur-Welt, die so gern wieder spielen will. Die noch fast nichts darf und in der manche vielleicht bald nicht mehr können. Über allem schwebt die Frage, ob Salzburgs Beispiel mit seinem beeindruckenden Zweit-Programm und knapp 80.000 neu aufgelegten Tickets als Retter aus der Not gelten kann. Oder als zweite Virenschleuder à la Ischgl, wie die „Süddeutsche“ apokalyptisch orakelte, als Salzburg meldete: Wir trauen uns.
Gut schlafen, ja, das ginge, berichtet Hinterhäuser, eher das Einschlafen sei ein bisschen schwieriger, „weil einem unendlich viele Dinge durch den Kopf gehen“. „Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es schon ist“, diesen Klassiker von Karl Valentin zitiert Hinterhäuser gerade ständig, um zu beschreiben, wie paradox die paradoxe Stimmung der letzten Wochen war, als alles zu war und nichts klar.
Salzburger Festspiele: Jubiläumsstimmung sieht anders aus
Jubiläumsstimmung sieht anders aus, Freude ist heuer nicht? „Nicht in dem Maß, in dem wir es gewohnt sind“, sagt er, „unser atmosphärisches Angebot ist beeinträchtigt.“ 5000 Karten wurden am ersten Tag verkauft, mit einigen Einschränkungen: mehr als zwei personalisierte Tickets für szenische Produktionen gibt es nicht, Ausweiskontrolle, Sitzordnung im Schachbrett-Muster, kurze Veranstaltungen, weder Pausen noch Gastronomie. Um den Runde-eins-Karten-Besitzern das Kommen zu anderen Terminen zu erleichtern, wurde ein Algorithmus entwickelt, der Alternativen aus dem neuen Sortiment vorschlägt.
Welchen wirtschaftlichen Sinn – neben der künstlerischen Sinnstiftung – macht all das, was jetzt in Salzburg gestemmt wird? „Wirtschaftlich macht das im Rahmen unserer Anforderungen keinen Sinn“, sagt der Intendant. „Aber dieses Minus ist vertretbar. Was allerdings hoffentlich einen sehr großen Sinn macht: Wenn es uns gelingt, hier halbwegs schadlos durch den Sommer zu kommen, ist das für alle ein großes, Mut machendes Zeichen.“ Die lockereren Vorschriften – bis zu 1000 Personen bei speziell zu regelnden Indoor-Veranstaltungen – nennt er er „etwas elastischer“ als in Deutschland, die Anspielung auf Ischgl, „im Schatten Mordors“, dem Reich der Finsternis in „Herr der Ringe“, findet er „ärgerlich“. „Wir sind hier keine unkontrollierte Party. Niemand hier im Haus hat auch nur eine Andeutung davon gegeben, dass wir diese Gefahr und diese Pandemie unterschätzen. Niemand.
Aber wir leben ja auch sonst! Alles arbeitet. Auch ein Kulturbetrieb kann arbeiten. Ich kann wirklich garantieren: Hier im Haus gelten so strenge Sicherheitsregeln wie sonst nirgendwo. Und, ebenso mit allergrößter Sicherheit: Wir tun nichts, was nicht erlaubt ist.“ Will meinen: Ständiger Kontakt mit allen zuständigen Behörden, es gibt ein Gesundheits-Tagebuch, in das alles ständig einzutragen ist. Eine von sehr vielen Regeln, nicht zuletzt auch, weil ein Ausbruch weit über die Stadtgrenzen Salzburgs hinaus eine Katastrophe wäre, auch ökonomisch. Die Wiener Philharmoniker, die viele sehr groß besetzte Stücke zu spielen haben, von Mahlers 6. bis zu Strawinskys „Feuervogel“, werden regelmäßig getestet.
Alle Künstler reisen getestet an. Und Überreden sei nicht notwendig gewesen, es habe „große Freude und ganz große Dankbarkeit gegeben, dass wir versuchen, das möglich zu machen.“ Joana Mallwitz, die Dirigentin der „Così“, hatte ihm sofort zugesagt, „ohne nachzudenken“. „Keiner hat gesagt, das mache ich nicht. Nicht nur beim Publikum ist eine übergroße Sehnsucht da. Künstler brauchen Publikum. Künstler brauchen Auftritte. Diese Sehnsucht ist riesig groß.“
Was wir tun können, um dem Kulturbetrieb wieder zum Leben zu verhelfen, das tun wir
Einige Tage vor diesem Telefonat gab es im Organisations-Bereich der Festspiele einen ersten Corona-Fall. „Das ist in der Sekunde eingekreist und geregelt worden“, berichtet Hinterhäuser. „Es ist sofort ein sehr effektiver Mechanismus angesprungen.“ Und alle Mitbetroffenen seien bei der zweiten Testung negativ gewesen. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt also. Die Mitarbeiter im Motorraum der Festspiele hatte man deswegen strikt in verschiedene Gruppen eingeteilt, Rot, Orange, Grün, mit peniblen Verhaltens- und Abstandregeln zueinander. Die jeweiligen Produktionsteams: alle ständig getestet, vollkommen getrennte Proben.
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Die neue „Elektra“ wird außerhalb geprobt, die in Rekordzeit an den Start gestellte „Così fan tutte“-Inszenierung im Festspielbezirk. „Es sind alle wahnsinnig diszipliniert“, betont der Hausherr. „Man kann nicht immer den Kulturbetrieb mit einer Million Fragezeichen überfrachten. Wir werden mit diesem Virus weiterleben, also müssen wir auch Methoden finden, wie wir mit ihm leben können. Was wir tun können, um dem Kulturbetrieb wieder zum Leben zu verhelfen, das tun wir.“
Trost stiftende Begleiterscheinungen des Ausnahmezustands: Kein Sponsor ist von der Festspiel-Fahne gegangen, die Politik gibt Rückendeckung. Dennoch bleibt alles, was jetzt passiert und kommen soll, ein Drahtseilakt. Ob andere einen Fehler gemacht haben, weil sie absagten und sich nicht trauten? „Niemand hat einen Fehler gemacht“, entgegnet Hinterhäuser. „Als die Zahlen noch so hoch waren, haben wir die Pfingstfestspiele abgesagt. Wir hatten diesen Zeitplan: spätestens 30. Mai die Entscheidung über die Sommerfestspiele. Zumindest jetzt hat uns dieser Zeitplan nicht unrecht gegeben.“
Streaming, so Hinterhäuser, sei „frei von jeder Aura“
uf die längerfristigen Perspektiven der ins Mark getroffenen Konzertbranche angesprochen, vermutet Hinterhäuser: „Wenn es ein Medikament gibt, werden sich bestimmte Prozesse ändern und wieder normalisieren. Momentan wird eine unfassbare Menge Geld in die wirtschaftliche Bewältigung der Pandemie investiert, kein gesellschaftlicher Bereich wird davon unberührt bleiben, auch die Kultur nicht.“ Doch fast im gleichen Atemzug schiebt Hinterhäuser hinterher: „Diese Vitalität, diese Freude bei den Proben hier, das ist fantastisch.“ Keine Befürchtungen also, dass manche meinen könnten, es ginge ja auch mit weniger Kultur als bisher? „Ich weiß nur, dass wir nicht ohne weniger Kultur leben können. Die Mechanismen werden sich verändern.
Das Streaming, das sehr wichtig war, ist kein Ersatz für diese kostbare Zusammenkunft von Menschen. Das Streaming ist frei von jeder Aura. Kunst, Künstler und Orte haben diese Aura, die Walter Benjamin definiert hat als die einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sei mag.“ Danach wird Hinterhäuser noch einmal noch grundsätzlicher. „Alle Lebensbereiche leben mit Einschränkungen und der Kulturbereich wird unentwegt befragt, ob man das überhaupt darf. Ich verstehe die Frage! Aber ich wüsste nicht, warum dieser Bereich anders behandelt werden sollte als andere. Wir müssen lernen, damit zu leben, in einer gewissen Unaufgeregtheit.“
Noch wenige Wochen, bis er und die Festspiele, alle Beteiligten und das Publikum konkret damit umzugehen haben. Die Anspannung werde bis zum 30. August, dem letzten Tag, nicht geringer werden, vermutet er. „Es ist wesentlich, diesen Versuch zu unternehmen.“ Bei einem Treffen mit Festspiel-Präsidentin Helga Rabl-Stadler, Anfang des Jahres in Hamburg, hatte sie über ihre Motivation gesagt: „Ich bin Optimistin und würde sagen: Versuchen, versuchen, nochmals versuchen. Wir haben die Kraft der Kunst auf unserer Seite.“ Hinterhäusers Meinung dazu ist pragmatischer formuliert. „Ich bin auf eine sehr rationale Weise sehr guten Mutes, dass wir das über die Bühne bringen. Vielleicht schaffen wir das.“
CDs: „100 Jahre Salzburger Festspiele“ (Limited Edition, DG, 58 CDs, ca. 120 Euro) Buch: Malte Hemmerich „100 Jahre Salzburger Festspiele. Eine unglaubliche Geschichte in fünf Akten“ (ecovin, 120 S., 18 Euro)