Hamburg. Das Theater spielt Szenarien für eine Wiedereröffnung durch – die wird noch dauern. Größte Sorge: die Furcht der Zuschauer.

Es sieht fast ein bisschen unheimlich aus. Mit leerem Blick starren weiße Gesichter auf dünnen Körpern in Richtung Bühne. Das St. Pauli Theater hat Publikum. Allerdings kein echtes – auf Holzlatten getackerte Papierköpfe sind es, die die Haustechnik in den Parkettreihen und Rängen verteilt hat, um zu testen, wie es aussehen könnte mit dem Abstand unter den Zuschauern.

Hausherr Ulrich Waller schaut über die leblosen Parkettbesucher und seufzt. „Wir wissen noch nicht, ob wir Nase zu Nase oder Schulter zu Schulter messen müssen“, sagt sein Partner Thomas Collien. Solche Details sind wichtig: Der Unterschied macht immerhin 50 Plätze aus, entweder kann das Haus 160 statt 533 Plätze besetzen oder nur 110 Plätze. Alles wird im Kopf durchgespielt. Mit Platzkarten oder ohne, von der Mitte nach außen oder gerade ganz anders? Es braucht in jedem Fall mehr Einlasspersonal, um die Abläufe (buchstäblich) reibungslos zu organisieren. Und wie wird es im Einlassbereich? „

Wir haben ja kein Foyer“, erinnert Ulrich Waller, in den Kassenbereich könnten nur vier Menschen zur Zeit, „sonst gibt es ein Chaos“. Vor dem Theater auf dem Spielbudenplatz allerdings dürfen sich trotzdem keine langen Schlangen bilden, wo sollten die auch hin? Auf der einen Seite ist die Davidwache, auf der anderen kommen schon die nächsten Bühnen mit denselben Herausforderungen. „Die Abstandsregel muss modifiziert werden“, fordern Waller und Collien. „In Österreich ist es nur ein Meter, sind die robuster als wir?“

St. Pauli Theater stand bei Schließung kurz vor Saisonhöhepunkt

Das St. Pauli Theater stand kurz vor der Premiere des Saisonhöhepunkts, als es schließen musste. „Gefährliche Liebschaften“, Regie Jürgen Flimm, prominent besetzt mit Martina Gedeck und Sven-Eric Bechtolf. Die Absage schmerzte doppelt, finanziell, aber auch künstlerisch. Nachgeholt werden soll die Produktion, aber nicht schon in diesem unsicheren Premierenherbst, sondern im nächsten Frühsommer, wenn die Welt – hoffentlich – wieder anders aussieht.

Denn ausgerechnet „Gefährliche Liebschaften“ mit Abstandsregeln? Kaum vorstellbar. „Theater hat etwas mit Körpern zu tun, es ist ein Gemeinschaftserlebnis“, betont Waller; dass man diesen Satz in den vergangenen Wochen schon so oft hörte, macht ihn nicht weniger wahr. Der Regisseur fühlt sich machtlos und manchmal wütend. „Man kann mir das auch nicht als ,neue Normalität’ verkaufen – das ist ein Ausnahmezustand!“

Besonders schwierig wird es bei Musiktheater, das Waller und Collien vor allem auch im Hansa Theater anbieten. Problematisch ist da fast alles: Singen im geschlossenen Raum, Live-Musik von einem beengt platzierten Orchester, Nähe auf der kleinen Bühne. „Bei ,Cabaret’ müssten die Sänger im Grunde hinter der Bühne in der Küche singen, damit das geht“, fürchtet Waller.

„Man bräuchte einen Super-Spreader des Optimismus“, wünscht sich Thomas Collien. Das gilt für die Theatermacher selbst, aber auch für das Publikum: „Ein sicheres Konzept für 160 Zuschauer kriegen wir hin“, glaubt er. „Aber was wir nicht im Griff haben, ist die Psyche der Menschen. Wie schafft man es, die Angst aus den Köpfen zu kriegen?“

Die Sorge um vorsichtiges Publikum

Auch im St. Pauli Theater ist das Publikum eher älter, also vermutlich vorsichtiger. Das könnte sich auf den Spielplan der Zukunft auswirken. Kleinere Stücke (ohne Pause, weniger Besetzung), vielleicht auch Stoffe, die auch jüngeres Publikum anlocken. Die Zwei-Personenstücke „Heilig Abend“ und „Love Letters“ wären in jeden Fall gesetzt, Ulrich Tukur hat einen Solo-Abend zum Neustart angeboten. Ein Spielzeitbeginn wäre laut derzeitigem Lockerungsfahrplan schon im Juli erlaubt – das St. Pauli Theater aber will sich (wie die meisten Hamburger Bühnen) mehr Zeit lassen.

Bürgermeister und Senat über den Corona-Stand in Hamburg:

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„Keiner will starten und dann wieder abbrechen müssen.“ Um den 20. September herum könnte es losgehen, schon vorher wäre das Reeperbahn Festival auf der Bühne zu Gast, „eine Art Testballon“, sagt Collien. „Wir werden vielleicht nicht sofort wieder die ganze Woche spielen, vielleicht auch Doppelvorstellungen geben, vielleicht kann ein Teil der Mitarbeiter in Kurzarbeit bleiben.“

Derzeit ist ein Großteil der Belegschaft in Kurzarbeit; nur Geschäftsführung, Vertrieb und Buchhaltung sind voll da, wobei Thomas Collien und Ulrich Waller freiwillig auf 50 Prozent ihres Gehalts verzichten, „auch als Zeichen gegenüber der Kulturbehörde“. Von der fühlen sich die Theaterchefs übrigens optimal betreut: „Es wurde alles elegant und zeitnah gelöst, das war wirklich toll.“

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Nun beschäftigen sich Collien und Waller also mit Hygienekonzepten und aktuellen Zuschauerumfragen aus dem Londoner West End, arbeiten an Belüftungsplänen und lassen den oberen Gastro-Raum sanieren. Im Netz sind alte Inszenierungen zu sehen, die „Dreigroschenoper“ sei während der Schließzeit immerhin 10.000 Mal geklickt worden. Die stummen Holzstangen-Zuschauer im Parkett harren derweil der Dinge, und Ulrich Waller wird beim Anblick des Geisterpublikums noch einmal grundsätzlich: „Corona ist keine Chance“, donnert er. „Corona ist einfach scheiße, das kann man auch nicht schönreden.“

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