Im Juni wäre der legendäre Kritiker 100 alt geworden. Als literarische Figur hat er es in zahlreiche Romane und Geschichten gebracht.

Mit dem Sammeln hat Uwe Neumann schon vor 20 Jahren begonnen. Hat stets notiert, wenn ihm Marcel Reich-Ranicki begegnete – in einem Roman, einem Gedicht, einer Erzählung. „Nach zwei Jahrzehnten“, sagt er, „kommt da ordentlich was zusammen.“

Und so legt Neumann, Literaturwissenschaftler und Oberstudienrat an der Ahrensburger Stormarnschule, nun also pünktlich zum 100. Geburtstag des „Literaturpapstes“, wie der Kritiker schon 1964 zum ersten Mal genannt wurde, eine 560 Seiten schwere Fleißarbeit vor: „Der große Zackenbarsch“ (Verlag LiteraturWissenschaft.de, 562 Seiten, 29,80 Euro) , eine so vergnügliche wie erhellende Übersicht über Reich-Ranicki als literarische Figur.

Reich-Ranicki hätte am 2. Juni Geburtstag gehabt

Nie zuvor und niemals wieder „hatte ein Literaturkritiker eine solche Macht und einen solchen Einfluss“, schreibt Neumann und kann es leicht beweisen. Denn nicht nur im Fernsehen und in den Feuilletons war der Großkritiker des legendären „Literarischen Quartetts“ omnipräsent, auch in den Werken jener Autoren und Schriftstellerinnen, die er lobte, verriss oder – viel schlimmer! – gar nicht erst beachtete, taucht er immer wieder auf.

Reich-Ranicki als „Der große Zackenbarsch“ in einer Zeichnung von Klaus Puth schmückt das Cover eines vergnüglichen neuen Bandes.
Reich-Ranicki als „Der große Zackenbarsch“ in einer Zeichnung von Klaus Puth schmückt das Cover eines vergnüglichen neuen Bandes. © Uwe Neumann | Klaus Puth

Sowohl seine „glühendsten Verächter“ als auch die (wenigeren) Freunde setzten ihm literarische Denkmäler aller Art; schmeichelhaft war das selten, die Fülle der Auftritte aber ist beeindruckend.

Die Prominenz der Autoren ohnehin. Grass und Walser, Lenz (Freund), Handke (Feind), Rühmkorf, Hahn, Gernhard, sie alle arbeiteten sich an ihm ab. Michael Ende erfand das skurrile „Büchernörgele, im Volksmund auch Klugscheißerchen oder Korinthenkackerli genannt“, Eckhard Henscheid lässt das charakteristische „R“ rollen („Ich rrede Schmarrren Schmarrrren, Schmarrrrren!“).

Am 2. Juni wäre Marcel Reich-Ranicki 100 Jahre alt geworden. Ein Gespräch über einen Kritiker, der seinen Autoren noch im Traum erschien, über Brechtschen Beischlaf – und das am lustvollsten gebrochene Gesetz der Branche: Äußere dich niemals zu deinem Kritiker.

Hamburger Abendblatt: Wie oft es Kritiker oder Autoren in literarischen Texten lebensgefährlich erwischt, ist bemerkenswert, Wortwahl und Bilder sind da nicht zimperlich: Da wird erschossen, „zwischen die Augen getroffen“, „zur Strecke gebracht“, da gibt es „mordwütige Rezensenten“ und eine „Hinrichtung“ mit „Nackenschuss“ – ein gewalttätiges Gewerbe, diese Literatur!

Uwe Neumann: In der Tat, man glaubt sich auf einem Schlachtfeld. „Zwischen die Augen getroffen“, das ist ein Zitat aus einer 1969 erschienenen Erzählung von Peter O. Chotjewitz. Wenn man bedenkt, wie aufgeheizt die Zeit damals war, finde ich so eine Gewaltvorstellung nicht ganz unproblematisch. Chotjewitz, ein ausgebildeter Jurist, wurde später übrigens der Verteidiger von Andreas Baader. Ansonsten muss man sagen: Dass Kritiker zur Strecke gebracht werden, ist in der Weltliteratur etwas ziemlich Normales. Und in Kriminalromanen werden Vertreter aller Gesellschaftsgruppen umgebracht. Warum also nicht auch Kritiker? Aber die Schärfe der literarischen Auseinandersetzung hier und da, die ist natürlich wirklich verblüffend. Die Beschäftigung mit Marcel Reich-Ranicki war in etwa fünf Prozent Hommage – und 95 Prozent Abrechnung.

Das galt wohl in beide Richtungen. Reich-Ranicki war ein hingebungsvoller Verreißer.

Neumann: Oja, und manchmal auf eine Art und Weise, dass man gut verstehen kann, wenn da jemand mal zum Gegenschlag ausholte.

Ausgerechnet Martin Walser, dessen „Tod eines Kritikers“ für einigen Aufruhr sorgte, sagte den schönen Satz „Lass dich nie dazu hinreißen, einem Kritiker einen Vorwurf zu machen“...

Neumann: In der Branche gibt es ein ungeschriebenes Gesetz: Äußere dich niemals zu deinem Kritiker. Siegfried Unseld hatte es seinen Autoren sogar explizit so gesagt. Man solle sich nur dann zu Wort melden, wenn etwas richtig gestellt werden muss. Sonst nicht. Aber diese Regel wurde ja nun laufend gebrochen.

Und mit welchem Genuss!

Neumann: Allerdings. Auch Hellmuth Karasek erscheint hier und da mal namentlich, aber Reich-Ranicki rangiert in dieser Hitparade schon ganz oben.

Was hat Sie bei der Zusammenstellung für den „Großen Zackenbarsch“ am meisten überrascht?

Neumann: Die schiere Anzahl der literarischen Auseinandersetzungen, vom Hobbydichter bis zum Nobelpreisträger. Ich war dann doch verblüfft, wie häufig er auftaucht, weit mehr als 300 Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben sich literarisch geäußert, quer durch alle Gattungen. Und sein Aufstieg ist ja auch immer wieder erstaunlich. Reich-Ranicki kommt da 1958 in der Gruppe 47 an und ist auf Anhieb einer der Großen. Und wurde auch von den anderen gleich so gesehen.

In den literarischen Texten tritt er später nicht immer unter eigenem Namen in Erscheinung. Welche Figuren fallen Ihnen ein?

Neumann: Einen versteckten Hinweis gibt Uwe Tellkamp in seinem Roman „Der Turm“, wo ein Kritiker namens Wiktor Hart erscheint. Das ist der Name, unter dem Reich-Ranicki im Warschauer Ghetto Musikkritiken verfasst hat. In vielen anderen Fällen wirken schon die erfundenen Doppelnamen als Winke mit dem Zaunpfahl: Bleich-Stranitzky, Groß-Radetzky, Reich-Radunsky, Reif-Rapunzel, Schleich-Schlanicki oder Wirsch-Morinski, um nur einige zu nennen.

Was kann ein Kritiker aus der Lektüre Ihres Buches lernen?

Neumann: Wie verletzbar Autorenseelen sind… Da arbeitet man zwei, drei Jahre an einem Roman und dann kommt der Kritiker und schreibt seine vernichtende Kritik womöglich in einer Stunde runter – so wird es zumindest vielfach wahrgenommen. Das kann schon zu tiefen Kränkungen führen.

Wobei es bei Marcel Reich-Ranicki irgendwann egal war, ob er lobte oder tadelte – Hauptsache, er erwähnte!

Neumann: So war es. Ich denke, das begann so um 1976 mit dem großen Verriss von Martin Walsers „Jenseits der Liebe“. Reich-Ranickis Verrisse konnten sich dann in vielen Fällen absatzfördernd auswirken. Eine schöne Faustregel stammt von dem schon erwähnten Peter O. Chotjewitz: „Lieber von Reich-Ranicki über’s Knie gelegt werden, als gar keine Besprechung!“

Schon 1970 erschien sein Sammelband „Lauter Verrisse“, von dem er später sagte, dieser Titel sei ein Fehler gewesen. Kann man das dem großen Verreißer glauben?

Neumann: Nun ja, man hat ihm vorgeworfen, der Band sei ein Appell an die Schadenfreude. Es wäre vielleicht anders gewesen, wenn er parallel den Band „Lauter Lobreden“ herausgebracht hätte. Das hat er aber erst 15 Jahre später getan… Da war am Image nichts mehr zu reparieren.

„Nur wer vernichten kann, kann kritisieren“ – hat allerdings nicht MRR gesagt, sondern Walter Benjamin.

Neumann: Es gibt eine Tradition des Verreißens in Deutschland, dafür stehen auch Walter Benjamin und Friedrich Schlegel. Marcel Reich-Ranicki bringt da eigentlich nichts Neues, aber sicherlich ging es in der Kritik der 1970er und 1980er Jahre zunehmend rauer zu. Dazu hat er maßgeblich beigetragen. Bernhard Schlink, dem mit dem „Vorleser“ einer der größten Erfolge der deutschen Nachkriegsliteratur gelang, sagte einmal, dass ihm die Kritikkultur in den USA besser gefallen habe. Dort werde ein schlechtes Buch nicht verrissen, sondern gar nicht erst besprochen.

Da hätte einem dann doch etwas gefehlt. Es ist schon ziemlich ulkig, wie Marcel Reich-Ranicki im „Literarischen Caféhaus“, dem Radio-Vorläufer des berühmten „Quartetts“, die „1048. Folge“ ankündigt, die den Titel trägt „Wann hören junge Autoren endlich auf zu schreiben?“ – so kann man es 1967 in einer Parodie lesen. Wann hat Kritik aufgehört, so lustig zu sein?

Neumann: Literaturkritik war ehedem sogar sehr amüsant. Heute kommt so etwas im Fernsehen rund um Mitternacht, nunja. Beim „Literarischen Quartett“ haben durchschnittlich 900.000 Zuschauer eingeschaltet! Wenn man Reich-Ranicki hörte, hatte man einfach das Gefühl, dass wirklich nichts wichtiger sein könnte als Literatur. Seine Schlagfertigkeit, sein Witz und seine Belesenheit waren einfach großartig. Und er hatte ein ungeheures Gedächtnis: „Kafka hat es hier noch etwas genauer gesagt, Thomas Mann hat aber dies oder das geschrieben…“ Wer soll da mithalten? Es gab und gibt natürlich viele sehr gute Literaturkritiker, aber Reich-Ranicki als Entertainer – das war ein Erlebnis.

Mit Günter Grass, über den Sie vor drei Jahren eine 1000-Seiten-Chronik herausbrachten, haben Sie sich noch länger als mit Marcel Reich-Ranicki auseinandergesetzt. Schlägt man sich da automatisch auf eine Seite? Wer ist Ihnen näher?

Neumann: Ich habe große Sympathien für beide. Man liest ja manchmal, dass die beiden „Todfeinde“ waren – das stimmt so nicht. Dass sie andererseits Freunde waren – das stimmt nun auch nicht. Da war sicher gegenseitige Wertschätzung und anfangs, als sie sich in der Gruppe 47 trafen, waren sie durchaus befreundet. Das hat sich bekanntermaßen gewandelt. Reich-Ranickis Verriss von „Ein weites Feld“ mit dem unseligen „Spiegel“-Cover, auf dem er das Buch in zwei Hälften reißt, war ja einer der größten Kultur-Skandale der Bundesrepublik – und in seiner Autobiografie erwähnt Marcel Reich-Ranicki das mit keinem Wort! Ich fand diese Geschichte nicht sehr fair. Die Schlammschlacht danach, als Reich-Ranicki sagte, das „Desaster“ dieses Romans habe eventuell mit einer „Impotenz“ von Günter Grass zu tun, also, das war nun wirklich unter aller Würde. Mannomann.

Seine Ungeniertheit zieht sich allerdings durch die Jahrzehnte, nicht nur Brechts Bettgeschichten interessierten Reich-Ranicki bis ins Detail… Im Grunde ist auch in Ihrem Buch ordentlich Klatsch und Tratsch enthalten, literarisch veredelt sozusagen, oder?

Neumann: Ja, man wundert sich! Aber er interessierte sich sehr dafür. Der Verleger Michael Krüger, den ich ja auch zitiere, sagte, Marcel Reich-Ranicki habe ein geradezu wissenschaftliches Verhältnis zum Klatsch gehabt.

Und nicht nur er: Der „Literaturbetriebsroman“ ist eine eigene Gattung. Wie viele davon haben Sie für dieses Buch gelesen?

Neumann: Viele! Bestimmt ein paar Dutzend. Es wäre interessant, das mal im internationalen Vergleich zu sehen! Wenn man die Personen kennt und erkennt, hat man ja seinen Spaß an dieser Insider-Literatur.

Man muss im Fall Reich-Ranicki also konstatieren: Die Literaturkritik beflügelt die Literatur?

Neumann: Ja, er wirkte anscheinend befruchtend. In seinen Vorlieben war er natürlich ziemlich selektiv und eng, was seinen eigenen Geschmack anging. Aber er hat eben auch viele zum Schreiben angeregt und hat andauernd im Hintergrund agiert. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass er irgendwann mal pausiert hat.

Sogar im Schlaf war er aktiv, jedenfalls im Schlaf der anderen: Mit Schriftstellerträumen, in denen Reich-Ranicki erscheint, ließe sich wahrscheinlich eine gar nicht so schmale Anthologie füllen, schreiben Sie. Waren das eher Albträume?

Neumann: Ach, jeder Schriftsteller wollte doch insgeheim im „Literarischen Quartett“ besprochen werden. Walter Kempowski hat da zum Beispiel in seinem Tagebuch sinngemäß geschrieben: „Habe von einer Schriftstellerversammlung geträumt. Reich-Ranicki kommt mir im Strampelanzug entgegen, die Träger schlappen herunter, er hat sich offenbar in die Hosen gemacht.“ Da hat der Autor erst einmal die Lacher auf seiner Seite. Aber man sollte sich auch denjenigen genauer anschauen, der solche Träume hat...

Oft spricht aus den Texten, in denen MRR eine Rolle spielt, eine fast schon verzweifelte Hassliebe. Bei Walser natürlich, auch bei Grass. Bei Peter Handke nicht, der beschreibt ihn tatsächlich als „Todfeind“.

Neumann: „Wenn der mal stirbt“, hat sich Handke einmal vorgestellt, „wird man das sehr bedauern. Dem kann ich nun nicht beipflichten.“ Wie kann man so etwas in der Öffentlichkeit sagen? Man mag sich den Aufschrei der Empörung gar nicht vorstellen, wenn Grass oder Walser derlei geäußert hätten. Aber dann gibt es auch diese herrliche Bemerkung von Reich-Ranicki, der 1999 zum Nobelpreis von Günter Grass befragt wird, und er sagt: „Grass, ja, immerhin. Stellen Sie sich mal vor, der dümmliche Peter Handke hätte ihn bekommen!

Der Große Zackenbarsch von Uwe Neumann, Marcel Reich-Ranicki als literarische Figur, Verlag Literaturwissenschaft.de, Marburg an der Lahn 2020, 562 Seiten, 29,80 Euro