Hamburg. Schauspielhaus baut Abstandshalter. Intendantin trifft Ensemble zum Online-Gespräch – plötzlich taucht Charly Hübner auf.

Schwimmnudeln! Wenn Kreativitätsdrang auf Pragmatismus trifft, kann das die Antwort sein. Die Werkstätten des Schauspielhauses, in denen sonst aufwendige Bühnenbilder und fantasievolle Kostüme entstehen, fertigen dieser Tage Gestelle, die an ausladende Reifröcke erinnern. Aus leichten, gelben und türkisgrünen Schaumwürsten, die sonst beim Seepferdchenkursus oder in der Seniorenwassergymnastik zum Einsatz kommen: Schwimmnudeln eben. In diesem Fall werden sie zu spielerischen Abstandhaltern, gedacht für Schauspieler, die unbeschwert proben sollen, ohne sich zurückzuhalten und ohne sich trotzdem im Eifer des Gefechts zu nah zu kommen. „Ich will anfangen zu proben“, sagt Karin Beier, die am Schauspielhaus die Verantwortung für Ensemble, Mitarbeiter und Publikum trägt, aber als Künstlerin langsam ungeduldig wird. Merkwürdige Zeiten erfordern unkonventionelle Lösungen.

Im Fokus der Intendantin ist der Betrieb, im Fokus der Regisseurin ist die Saisoneröffnungspremiere, „Reich des Todes“ heißt sie, ausgerechnet. Eine politische Theorie von Rainald Goetz, es geht um staatliche Strukturen und Machtmissbrauch und darum, wie eine Krise ein autokratisches System befördern kann. Ein lang erwartetes Stück, ausgehend von 9/11, über dessen Bearbeitung Karin Beier sagt, sie müsse da jetzt inhaltlich gar nicht groß umdenken: „Da sehe ich große Zusammenhänge.“ Das Stück sei „im Zentrum der Debatte“.

Deutsches Schauspielhaus: Leute mit Vernunft abholen

In Deutschland befürchte sie übrigens keine Autokratie, stellt sie klar: „Aber ich schaue auch nach Ungarn, um mal das extremste Beispiel zu nennen.“ Hierzulande beobachte sie interessiert, wie man plötzlich „auch unliebsame Entscheidungen fällen“ und „die Leute mit Vernunft abholen“ kann. Dass es für die Arbeitswelt neue Spielregeln gibt, nimmt sie im Übrigen gelassen hin: „Das kann auch reizvoll sein. Wie lange es reizvoll ist, das weiß ich natürlich nicht.“ Aber sie freue sich darauf, es auszuprobieren.

Drei bis vier Stunden täglich ist sie in diesen Tagen im Theater, ausprobiert hat man dort zuletzt auch künstlerisch einiges. Im Netz sendet das Schauspielhaus „Corona Diaries“, Podcasts und eigene Inszenierungen aus der Konserve – eine kleine, fast unauffällige Nische allerdings hat sich dabei zu einer echten Perle entwickelt. Unter dem Titel „SchauSpielHausBesuch“ bittet Karin Beier ihre Schauspielerinnen und Schauspieler zum Gespräch in die Räumlichkeiten der Maske. Im Hintergrund liegen wechselnde Requisiten, die Interviewerin ist nur im Spiegel zu sehen, räumlich wahrt sie Distanz. Inhaltlich nicht. „Was ich möchte, ist, dass der Zuschauer den Schauspielern etwas näher kommt.“ Die Chefin fragt, das Ensemble erzählt. Und bisweilen erzählt die Chefin auch selbst. Tiefgründiges, Privates, das Format hat zugleich etwas fast Voyeuristisches wie ungemein Tröstliches.

Besonderer Reiz der Begegnungen

Man erfährt vom Urlaub auf Kuba, seit dem Karin Beier nur noch Kindle liest und keine gedruckten Bücher mehr, hört, wie froh sie ist, in dieser Situation arbeiten zu können und von den Vorteilen ihrer Hundebesitzer-Whatsappgruppe: „Total angenehm, mit Leuten abzuhängen, die nichts mit Theater zu tun haben!“ Hier und dort blitzt auf, dass die Intendantin in Hamburg womöglich nie richtig angekommen ist. „Vielleicht ist es mir auch egal geworden“, sagt sie an einer Stelle. Das sitzt.

Prototyp eines Abstandshalter-Rocks aus den Kostümwerkstätten des Schauspielhauses.
Prototyp eines Abstandshalter-Rocks aus den Kostümwerkstätten des Schauspielhauses. © Carmen Kindler

Man registriert, dass es gelingen kann (im Gespräch mit Angelika Richter) sich rohe Eier über anderthalb Meter Entfernung zuzuwerfen und über Solidarität zu sinnieren, während das Dotter tropft. Es ist die Mischung aus solch anarchischen Momenten und dem aufrichtigen Interesse an der Person, die den Reiz der Begegnungen ausmacht. Gala Othero Winter hat eine Großmutter in Italien und kommt gut mit der Einsamkeit klar, Eva Bühnen hat kein Haustier, aber einen Freund. Lina Beckmann und Charly Hübner unterrichten wie alle Eltern ihren Sohn zu Hause (er Mathe, sie Englisch).

Jeder Gast bringt etwas mit

Immer wieder rutscht die unbedarfte Plauderei in eine große Ernsthaftigkeit, was nicht zuletzt daran liegt, wie konzentriert und unalbern Karin Beier fragt. Mal neugierig und unvermittelt, mal regelrecht prüfend. Und so gesteht Julia Wieninger: „Ich empfinde mich anders in der Welt“, und Lina Beckmann spricht freimütig über ihre Ängste in Coronazeiten: „Ein Gefühl, das ich noch nie in meinem Leben hatte.“ Was sie mit ihrem unbändigen Spieltrieb mache, will Karin Beier noch wissen, aber ihre Schauspielerin weiß es doch auch nicht: „Vielleicht platze ich.“

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    Wer selbst im Stimmungstief hängt, sollte sich diese Lina-Beckmann-Episode anschauen, die damit endet, dass sich ihr Mann, Schauspielkollege Charly Hübner, dazu gesellt und seine Frau mit der Gitarre begleitet. Jeder Gast bringt etwas mit, eine kleine Lesung, einen Serientipp, ein Lied.

    Und man hat gerade diese beiden Schauspieler so unglaublich gern, wie sie da sitzen, so offen, klar und geradeheraus, und sich beim Singen immer wieder ganz verzückt anblicken. Im Sommer hätte Lina Beckmann in der Regie von Karin Henkel „Richard III.“ bei den Salzburger Festspielen spielen sollen. Die Titelrolle, was für eine Besetzung. Noch sind die Festspiele nicht offiziell abgesagt, aber dass sie im August wirklich stattfinden, das glaubt eigentlich niemand. Und selbst wenn – die Probenzeit für diese Shakespeare-Arbeit würde schon jetzt kaum mehr ausreichen. Vielleicht im nächsten Jahr in Salzburg, vielleicht schon vorher in Hamburg.

    „Wir haben eine offene Zukunft“

    „Man wird künftig sehr kurzfristig denken müssen“, glaubt Karin Beier. „Wir haben eine offene Zukunft.“ Pause. „Ich finde das ja toll.“ Das Geständnis mag verblüffen, zumal Karin Beier bekannt ist dafür, sich stets extrem gut und fast schon manisch genau vorzubereiten. Sie ist aber auch eine erfahrene, geradezu lustvolle Krisenmanagerin. Schon ihre Hamburger Intendanz begann mit einer unvorhergesehenen monatelangen Schließung, als der Eiserne Vorhang nach Bauarbeiten plötzlich nach oben geschnellt war und die Gegengewichte den Bühnenboden durchschlagen hatten, kurz bevor die neue Intendantin mit Pomp ihr neues Haus eröffnen wollte. Lustig war das damals nicht, lustig findet auch die aktuelle Situation niemand. Aber man kann es auch so sehen: „Man muss zügig neu denken. Wir werden alle schön wach.“

    Charly Hübner und Lina Beckmann im Online-Format.
    Charly Hübner und Lina Beckmann im Online-Format. © Deutsches Schauspielhaus

    Auch ihren nächsten Spielplan, den sie kurz vor den Frühjahrsferien bereits der Öffentlichkeit präsentiert hatte, muss Karin Beier überarbeiten. Die Produktionen „Café Populaire“ und „Coolhaze“, die bei der Premierenabsage nahezu fertig geprobt waren, sollen im nächsten Spielplan Platz finden. Anderes wird aus logistischen Gründen weichen oder langfristig verschoben werden müssen, Frank Castorfs für Mai geplanter „Geheimagent“ zum Beispiel kann erst in der Spielzeit 2021/22 über die Bühne gehen.

    Weniger Besucher und Abstandsschlangen vor dem Theater

    Und bis dahin? Wird es, wenn überhaupt, ein Betrieb unter widrigen Umständen: „Wenn nur ein einziger Mitarbeiter krank wird, ist wieder Full Stop.“ Auch am Schauspielhaus rechnet man, wie an den anderen Hamburger Bühnen, mit weniger Besuchern, mit Abstandsschlangen vor dem Theater („Wenn das bei Obi geht, wird das bei uns auch funktionieren“), mit einer lockeren Setzung in Parkett und Rängen.

    Um kein Foyer-Gedränge zu verursachen, könnten die Garderoben geschlossen bleiben: „Da muss man dann vielleicht mal seinen Mantel auf den Schoß legen“, schlägt Karin Beier vor. „Das kriegt man hin.“ Konkrete Logistik-Pläne gibt es noch nicht: „Das ist Zukunftsmusik für den Herbst.“ Und wer weiß – eines Tages trägt vielleicht nicht nur das Ensemble beim Proben, sondern auch das Publikum beim Einlass praktische Schwimmnudel-Abstandshalter. Man kann sich an vieles gewöhnen.

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