Hamburg. “Vielleicht muss ich einen Job annehmen.“ Fatih Akin über sein Projekt zu Marlene Dietrich, „Scarface“, Jogginghosen und die Würde.
Für fast alle Menschen hat sich der Alltag geändert, Regisseure machen da natürlich keine Ausnahme. Der Hamburger Fatih Akin („Gegen die Wand“, „Soul Kitchen", „Aus dem Nichts“) hatte für diesen Frühling eigentlich ganz andere Pläne, als im Homeoffice in Ottensen zu sitzen. Aber genau da ist er zurzeit. Was macht ein Filmemacher, der gerade keine Filme machen kann? Schreiben, Pläne schmieden, auf die Würde achten. Ein Gespräch.
Hamburger Abendblatt: Herr Akin, Sie leben zusammen mit Ihrer Frau, zwei Kindern und einem Hund. Die wollen doch bestimmt alle raus. Wie machen Sie das?
Fatih Akin: Die Kinder machen das ganz gut mit. Mein Sohn ist ohnehin gern zu Hause und kommuniziert mit seinen Freunden mithilfe der Playstation. Sie spielen gemeinsam, haben Kopfhörer auf und können sich dabei auch unterhalten. Bei einem der Spiele kann man gemeinsame Fahrradausflüge unternehmen. Online. Meine Tochter hat ihre beste Freundin, mit der sie täglich skypt. Meine Frau Monique unterrichtet sie und entwickelt außerdem derzeit einen Stoff für mich. Ich schreibe gerade viel.
Abendblatt: Das ist die private Seite. Aber wie ist Ihr Leben ohne Kino?
Akin: Um die Kinos mache ich mir schon Sorgen. Wir müssen diese Krise überwinden. Irgendwann wird man schon wieder rausgehen dürfen. Schritt für Schritt. Österreich macht es mit den Friseuren ja vor – die Haare müssen schließlich sitzen. Wir werden wahrscheinlich weiter vermeiden müssen, dass Menschenmassen zusammenkommen. Aber genau dafür ist das Kino geschaffen worden, um ein kollektives Erlebnis anzubieten. Das wird auch wiederkommen. Nur: Bis dahin müssen die Lichtspielhäuser irgendwie überleben.
Abendblatt: Wie hat sich Ihr Beruf gerade verändert?
Akin: Ich telefoniere und skype zurzeit wie noch nie und entwickle dabei Plan B, C und D. Und bin heilfroh darüber, dass ich nicht gerade mitten in Dreharbeiten steckte oder kurz vor einem Dreh war. Das hätte eine Menge Probleme mit sich gebracht. Keiner hätte gewusst, wann es weitergeht. Wie hätten die Versicherungen reagiert? Es wäre viel Geld im Spiel gewesen.
Abendblatt: Eigentlich wollten Sie jetzt eine Serie über das Leben von Marlene Dietrich drehen. Wie weit waren Sie da?
Akin: Die Drehbücher sind gerade fertig. In acht bis neun Monaten hätten wir mit den Dreharbeiten anfangen wollen. Ich hätte jetzt Drehorte ausgesucht, aber dafür müsste man reisen, und das geht ja nun gar nicht. Wir arbeiten aber weiter an diesem Projekt, zum Beispiel am Casting. Meine Mitarbeiter sind mit Vorbereitungen und Projektentwicklungen beschäftigt. Ich musste bisher Gott sei Dank noch niemanden aus meiner Produktionsfirma entlassen oder in Kurzarbeit schicken. Das ist ein großer Luxus! Aber vielleicht kommt das noch. Je nachdem, wie sich alles entwickelt, muss ich vielleicht irgendwann irgendeinen Job annehmen, um meine Familie zu ernähren, wer weiß das schon.
Abendblatt: Das „Marlene“-Projekt ist auf sechs Folgen angelegt. Wie lange dreht man so etwas?
Akin: Es soll ja keine Krankenhaus- oder Polizeiserie werden, in denen man ständig die gleichen Motive benutzen kann. Die Dietrich war umtriebig, eine Weltenbummlerin. Sie war heute in Venedig, morgen in Los Angeles, übermorgen in Paris. Wir versuchen das einzufangen. Das Thema ist Heimat, ihre ambivalente Beziehung zu Deutschland. Sie verlässt Berlin 1929 und kommt nach Kriegsende in eine völlig zerstörte Stadt zurück. Es gab da eine Hassliebe, sie wollte sich ihre Wurzeln bewahren, sie hat um etwas gekämpft, wurde aber auch angefeindet. Das sind Situationen, die ich kenne. Sie machen aus dieser Geschichte ein sehr persönliches Projekt für mich. Es ist eine extrem aufwendige, fast größenwahnsinnige Angelegenheit mit über 100 Drehtagen.
Abendblatt: Welche anderen Projekte entwickeln Sie gerade?
Akin: Ein episches Biopic über einen deutschen Gangster von heute und eine Literaturverfilmung, die wie ein Crossover zwischen Astrid Lindgren und David Lynch daherkommt. Ansonsten arbeite ich gerade an einem filmischen Essay über Osman Kavala.
Abendblatt: Das ist der türkische Mäzen, der wegen seines angeblichen Putschversuches gegen Erdogan verhaftet wurde. Im Februar wurde er wegen des Mangels an Beweisen freigesprochen, aber Stunden später erneut verhaftet. Woher kennen Sie ihn?
Akin: Er hat als Türke aus Istanbul meinen Film „The Cut“ unterstützt, in dem es um den Völkermord an den Armeniern geht. Ich kann mich nicht erinnern, dass Kavala irgendeine parteipolitische Agenda hatte. Es ging ihm immer um Kultur. Er ähnelt in seiner Eigenschaft als Kunstmäzen einem Jan Philipp Reemtsma, wie dieser ist er Erbe einer Tabakfirma. Er wollte aber kein Industrieller sein und ist Philanthrop geworden. Das ist schon mal verdächtig: Wenn du dein Geld nicht für dicke Autos, sondern für kulturelle Projekte ausgibst! Er fördert mit seiner Stiftung die kulturelle Vielfalt Anatoliens, damit sie nicht in Vergessenheit gerät. Viele Völker haben dort ihre Spuren hinterlassen. Er hat unter anderem den ersten kurdischen Hip-Hop-Workshop in Diyarbakir und die Restaurierung von assyrischen Kirchen finanziert.
Abendblatt: Was kann man denn in dieser speziellen Situation mit solch einem filmischen Essay erreichen?
Akin: Jeder, der von Kavala unterstützt worden ist, soll sein Projekt beschreiben. Wahrscheinlich werden es einminütige Beiträge auf Instagram. Es geht darum, Leuten außerhalb und innerhalb der Türkei klarzumachen, wer er eigentlich ist. Er selbst hält sich eher im Hintergrund.
Abendblatt: Haben Sie Mitstreiter bei der Aktion?
Akin: Beim Treffen einer Gedankenfabrik zu dem Thema waren unter anderem Denis Yücel, Cem Özdemir, Can Dündar, Shermin Langhoff und ich dabei. Der Mann muss, wie alle politischen Gefangenen in der Türkei, so schnell wie möglich aus dem Gefängnis.
Abendblatt: Im vergangenen Monat musste die Aktion „Eine Stadt sieht einen Film“ abgeblasen werden. 17 Hamburger Kinos wollten Ihr Spielfilmdebüt „Kurz und schmerzlos“ aus dem Jahr 1998 in einer restaurierten Fassung zeigen. Lässt sich das nachholen?
Akin: Das hoffe ich. Der Alltag muss irgendwann weitergehen, auch wenn der Coronavirus noch da ist. Die Angst, ins Kino zu gehen, wird vielleicht so lange andauern, bis es einen Impfstoff gibt. Ich kann das verstehen. Es hat zuerst 22 Jahre gedauert, meinen Film wiederzuentdecken und zu restaurieren. Dann dauert es jetzt eben 24 Jahre.
Abendblatt: Sehen Sie Ihre alten Filme gern?
Akin: Nein. Auch nicht im Fernsehen, wenn ich sie zufällig beim Zappen erwische. Ich schaue mir das dann vielleicht fünf Minuten an und sehe lauter Fehler. Dann wechsle ich den Sender.
Abendblatt: Gibt es Filme, die Sie gern wiedersehen?
Akin: „Scarface“ von Brian De Palma mit Al
Pacino aus dem Jahr 1983. Den habe ich bestimmt 20-mal gesehen, zuletzt vor einer Woche wegen eines Filmprojekts. Jedes Mal wird er besser.
Abendblatt: Einige möchten die Coronakrise als Chance begreifen und fordern, wir sollen grundsätzlich über unseren Lebensstil nachdenken. Wird das so kommen?
Akin: Man denkt schon: So geht es nicht weiter, der Kapitalismus ist gegen die Wand gefahren... aber das ist Theorie. Ich vermute, dass wir uns in Zukunft besser auf solche Pandemien vorbereiten werden. Ich glaube aber nicht, dass die Menschen oder die Gesellschaft sich entscheidend ändern werden. Die Menschheit hat die Pest und Aids erlebt. Alle diese Erfahrungen haben uns für die aktuelle Situation nicht besser gewappnet. Die Kriegserfahrungen haben auch nicht dazu geführt, dass es keine Kriege mehr gibt. Es ist eine schöne Wunschvorstellung, dass jetzt alles bewusster und aufmerksamer wird. Ich würde es gerne glauben, aber eigentlich bezweifle ich es.
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Akin: Als ich Ende März einen Anflug von Melancholie bekam und dachte: Ist ja wie im Knast, das Zuhausehocken, musste ich sofort an Osman Kavala in seiner Zelle denken. Meine larmoyanten Gedanken müssen ja wie ein Schlag in sein Gesicht sein! Ich habe hier mein Internet, meine Bücher, meine Kinder, meine Frau, meinen Hund ... Da riss ich mich augenblicklich zusammen. Ein Patentrezept ist außerdem, den Tag nicht im Pyjama oder in Jogginghose zu verbringen. Immer die Würde behalten.