Hamburg. Eigentlich hätte Antú Romero Nunes am Sonnabend große Premiere gehabt. Über die Krise und seine persönliche Hamburg-Bilanz.

Antú Romero Nunes hat als Theaternomade seit Jahren kein wirkliches Zuhause. Doch derzeit ist er in seiner Regiewohnung in der Schanze gestrandet. Fürs Erste bereitet er hier den Herbst vor, als Teil eines vierköpfigen Leitungsteams übernimmt er dann die Schauspielsparte am Theater Basel.

Die letzte Hamburger Inszenierung des langjährigen Thalia-Hausregisseurs hätte eigentlich an diesem Sonnabend am Thalia Premiere feiern sollen. Das Virus kam dazwischen. Das Triptychon „Ode an die Freiheit“ nach Schiller bekommt in diesen Zeiten einen ganz neuen Klang. Nun eröffnet die Premiere „Maria Stuart. Ode an die Freiheit 1“ den Online-Ersatzspielplan #thaliadigital auf thalia-theater.de – ein Filmprojekt unter besonderen Umständen.

Hamburger Abendblatt: Den Abschied von Hamburg haben Sie sich sicher anders vorgestellt: statt einer Inszenierung als Finale Proben mit offenem Ende. Wie geschockt waren Sie und das Team, als die Anordnung zur Theaterschließung bis Ende April kam?

Antú Romero Nunes: Es ist ja nicht so, dass wir nicht alle vorgewarnt gewesen wären. Trotzdem waren einige ob der Länge der Schließung schockiert. Da wurde allen klar, dass es ernst ist. Mich hat es entspannt, dass wir das jetzt zusammen ernst nehmen und uns nicht gegenseitig mit unseren persönlichen Meinungen belästigen, sondern gemeinsam etwas aushalten. Die ständige Überproduktion offenbarte sich in ihrer Bedeutungslosigkeit, und wir mussten lernen, dass jeder mit der Situation anders umgeht, und dafür Verständnis aufbringen. Das ganze Theater musste zusammenrücken und Abstand halten, das schweißt dann schon zusammen.

Abendblatt: Im Theater hat man ja immer mit Extremen zu tun. Hilft das?

Nunes: Nein. Aber Ausnahmezustände gehören zum Leben dazu. Auch wenn man sie zum ersten Mal erlebt. Die Welt verändert sich ständig. Man muss nur wachsam sein, dass man bei der Verhandlung um die neue Welt nicht betrogen wird. Errungenschaften wie Selbstbestimmtheit, Privatsphäre oder ein Asylrecht sind nicht selbstverständlich. Man muss sie erkämpfen und behaupten.

Coronavirus: Interaktive Karte

Abendblatt: Die Proben gingen ja zunächst noch weiter. Wie war die Gefühlslage?

Nunes: Da war viel Angst im Raum. Und viel Lust. Toll, dass das so nah beieinander liegt, oder? Kleine Gruppen, viel Abstand und Händewaschen haben wir auch vor der Schließung praktiziert. Als klar wurde, dass auch die Proben irgendwann eingestellt werden würden, nutzten wir die Zeit, um Filme zu machen. Wir hatten eine Probe, wo wir mehrere Meter Abstand gehalten und Umarmungen angedeutet haben. Da entstand eine schöne Spielweise nach Goethe-Regeln. Leider mussten wir ziemlich bald aufhören.

Abendblatt: Viele Theater setzen nun Livestreams ein. Einige zeigen ganze Inszenierungen, andere kleine Formate, etwa Lesungen oder kleine Interviews. Kann das annähernd das Theatererlebnis ersetzen?

Nunes: Auf gar keinen Fall. Und es ist keine gute Idee, das Internet jetzt mit irgendwelchen Aufzeichnungen vollzumüllen. Das heißt das Theater ausziehen, und es sieht nicht gut dabei aus. Theater braucht Exklusivität. Es ist auf Anwesenheit gebaut. Dass man den Weg dahin macht und sich dann fragt, was das Ganze soll und dann endlich offen für Überraschung ist. Es ist der absolute Widerspruch. Wir können in jeder Krisenzeit Theater machen, aber nicht in dieser.

Abendblatt: Was geht einer Gesellschaft durch zwangspausierende Theater verloren?

Menschen brauchen Kontakt, wir brauchen es, in einem Raum Realität zu fantasieren. Einen Großteil unserer Zeit verbringen wir in Fantasie. Ab und zu müssen wir diese Räume gemeinsam betreten, sonst sind wir allein. Ich hoffe, dass es uns allen wieder bewusst wird, wie wichtig es ist, gemeinsam zu weinen, zu brüllen und zu lachen. Das lässt sich nicht ersetzen oder wegnehmen. Die sehr simple Netflix-Videothek ist schnell verstanden und leergeschaut.

Coronavirus in Hamburg: Der Überblick

Abendblatt: Eine Krise verändert ja eine Gesellschaft. Es gibt ja viele Überlegungen, wie sich die Landschaft auch politisch wandeln könnte. Haben Sie Befürchtungen oder Hoffnungen?

Nunes: Ich hoffe, dass nicht Mechanismen in Gang kommen – Stichworte Wirtschaftskrise oder Überwachungsstaat –, die neue ernsthafte Probleme bringen. Dass nicht Abschottung, sondern Gemeinschaft aus dieser Lage resultiert. Dass wir gemeinsam reagieren, wenn wir uns neu aufstellen und uns jetzt nicht dumm stellen, nur weil wir Angst haben.

Abendblatt: Die „Ode an die Freude“, also der von Beethoven vertonte Schiller, wurde ja zuletzt als Durchhaltelied von Hamburger Balkonen geschmettert. Warum haben Sie den Schiller-Stoff ausgewählt, und welche Bedeutung hat er nun bekommen?

Nunes: Ich habe ein Triptychon inszeniert aus „Maria Stuart“, „Kabale und Liebe“ und „Wilhelm Tell“, wo die Figuren in ihren Widersprüchen wie in Schlaufen gefangen sind. Bei Schiller geht es immer um Freiheit. Widersprüche setzen uns fest. Handlungsunfähig sein bedeutet Unfreiheit. Ohne Handlung kein Theater, ohne Handlung kein Leben. Frei handeln, heißt Freiheit erschaffen und nicht das zu tun, was bequem ist. Handeln unter Extrembedingungen. In dieser Situation befinden wir uns jetzt auch.

Abendblatt: Wie geht es mit Ihrer „Ode“ weiter?

Nunes: Wir sind bereit, die Inszenierung wiederaufzunehmen und auf der Bühne herauszubringen. Es wird an diesem Sonnabend um 19 Uhr den ersten Teil, „Maria Stuart“ auf der Thalia-Website zu sehen geben, aber als Kurzfilm, nicht als abgefilmtes Theater. Das Theatererlebnis wird anders sein.

Abendblatt: Wie sieht Ihre persönliche Hamburg-Bilanz aus? Was waren die schönsten Momente, die gelungenste Arbeit, das größte Ärgernis, der größte Flop?

Nunes: Mein Herz gehört dem Ensemble. Ich durfte meine Lebenszeit mit diesen fantastischen Spielerinnen und Spielern, mit diesen großartigen Menschen bereichern. Diese Kontinuität führte dazu, dass wir schneller an Punkte kamen, wo es interessant wird. Manche Arbeiten waren schwerer, andere leichter. Ich habe aus jeder viel gelernt. Keine Arbeit wäre ohne die Erfahrung aus der Vorherigen möglich gewesen. Es ging immer um Entwicklung. Und nicht nur darum zu zeigen, dass man tolle Sachen macht.

Abendblatt: Sie sagten ja zuvor, dass Sie mehr Verantwortung als Regisseur übernehmen wollen. Auch mehr Eigenständigkeit suchen und deshalb die Chance der Leitung ergriffen haben. Welche Gedanken haben Sie beim System Stadttheater aktuell?

Nunes: Theater baut auf das Prinzip gegenseitiger Inspiration. Dafür müssen Strukturen her und keine Hierarchien. Deshalb die kollektive Leitung. Es geht darum, herauszufinden, was jemand braucht, um kreativ zu sein. Diese Strukturen darf ich jetzt gestalten, und es war Zeit für mich, das zu dürfen.

Abendblatt: Mit welchen Gedanken verlassen Sie
Hamburg?

Nunes: Hamburg ist meine liebste große Kleinstadt. Wir haben uns fantastisch verstanden, Hamburg und ich, wir sind Freunde fürs Leben geworden und wir werden uns wiedersehen.

Lesen Sie hier die aktuellen Entwicklungen zum Coronavirus im Newsblog für Norddeutschland.