Hamburg. Beim Jahreswechsel 2009/2010 sah es noch düster aus. Doch auch wegen der Elbphilharmonie kam fast alles ganz anders.
„Jetzt schlägt die Wirtschaftskrise offenbar voll durch, bald geht es auch der Kultur an den Kragen.“ Mit diesen Worten begann der Abendblatt-Rückblick auf das Jahr 2009, der zugleich auch ein Ausblick in eine Zeit voll drohender Schrecken war. Das Museum für Kunst und Gewerbe verlor einen großen Teil seiner wertvollen Porzellansammlung, Kunsthallenchef Hubertus Gaßner fürchtete, dass Kunstsammler ihre Leihgaben zurückziehen könnten, um sie zu Geld zu machen, die „Zeit“-Stiftung stellte ihre Förderung des Ensemble Resonanz ein, Friedrich Schirmer wirkte als überaus glückloser Intendant am Schauspielhaus. Ja, Hamburgs Kulturleben war vor nunmehr zehn Jahren voll im Krisenmodus.
Wegen Problemen mit den Brandschutzklappen ließ Kultursenatorin Karin von Welck 2010 die Galerie der Gegenwart temporär schließen – nicht wenige mutmaßten, dass durch die Maßnahme in erster Linie Geld gespart werden sollte. Und dann war plötzlich auch noch die Schließung des Altonaer Museums im Gespräch …
Dass das Gängeviertel vor dem Abriss stand, Thalia-Intendant Ulrich Khuon Hamburg Richtung Berlin verließ und beliebte Schauspieler mitnahm, dass es sich als schwierig erwies, einen Nachfolger für den ebenfalls abwandernden Deichtorhallen-Intendanten Robert Fleck zu finden, passte in das düstere Bild. Kulturstadt Hamburg? Davon konnte Anfang der 2010er-Jahre keine Rede sein – zumal auch noch die Elbphilharmonie ein Millionengrab zu werden drohte. 2011 eskalierte der Streit zwischen dem Baukonzern Hochtief und der Stadt, es kam zum Baustopp. Forderungen, den Rohbau als „Mahnmal der Verschwendungssucht“ für alle Zeiten unfertig stehen zu lassen, wurden laut.
Am 11. Januar 2017 wurde die Elbphilharmonie tatsächlich eröffnet
Dass es nicht so kam, dass die Elbphilharmonie am 11. Januar 2017 tatsächlich eröffnet wurde, war eine zum großen Teil Bürgermeister Olaf Scholz und Kultursenatorin Barbara Kisseler (1949-2016) zu verdankende Energieleistung, jahrelang kaum noch für möglich gehalten. Vor allem aber war diese Eröffnung ein Quantensprung für Hamburgs Kulturleben und strahlte weit über die eingeschworene Gemeinde der Klassikkonzertgänger hinaus.
Nie zuvor war der Run auf Karten so groß wie nach diesem Tag im Januar. Vor den Kassen bildeten sich lange Schlangen, beim Onlineverkauf kollabierten die Server, der Ticket-Schwarzmarkt explodierte. Als Intendant Christoph Lieben-Seutter scherzhaft erklärte, auch auf Kämmen blasende Putzfrauen würden die mehr als 2000 Plätze des Großen Saals füllen, lag er so falsch nicht. Tatsächlich liegt die Auslastung bis heute bei nahezu 100 Prozent, die Anzahl der Menschen, die Konzerte in Elbphilharmonie und Laeiszhalle besuchen, hat sich im Vergleich zur Zeit vor der Elbphilharmonie-Eröffnung verdreifacht. Lange als Kassengift verschriene Neutöner füllen ebenso die Säle wie Jazz und Weltmusik. Ein neues Zeitalter.
Das hatte sich zuvor auch in anderen Bereichen angekündigt. Der geplante Abriss des Gängeviertels und die für möglich gehaltene Schließung des Altonaer Museums hatte die Stadtgesellschaft über scheinbare Grenzen hinweg mobilisiert. Studenten und das Bürgertum, Linke und Konservative – es war ein Punkt erreicht, den man nicht mehr hinnehmen wollte, gegen den man gemeinsam aufbegehrte.
Kultursenator Carsten Brosda wird mehr als nur geschätzt
Der bloßen Behauptung, Musik- oder gar Kulturstadt zu sein, ist inzwischen reales Handeln gefolgt. Die Strahlkraft der Elbphilharmonie hat nicht nur der Laeiszhalle einen Push gegeben, auch die Museen profitieren vom insgesamt gesteigerten Interesse an kulturellen Angeboten.
Die Grundrenovierung der Kunsthalle, die unlängst ihren 150. Geburtstag feierte, die Neuausrichtung des ehemaligen Museum für Völkerkunde (jetzt Museum am Rothenbaum. Kulturen und Künste der Welt), der Umzug des Bucerius Kunst Forums in neue, größere Räumlichkeiten am Alten Wall, der avisierte Bau des Hafenmuseums: Es ist viel in Bewegung gekommen. An den Staatstheatern feiern Joachim Lux (Thalia) und Karin Beier (als erste Frau an der Spitze des Schauspielhauses) Erfolge, das gilt ebenso auch für die drei Dirigenten Kent Nagano, Sylvain Cambreling und Alan Gilbert. Kultursenator Carsten Brosda wird mehr als nur geschätzt.
Nicht überall herrscht eitel Kultursonnenschein
Dass Kampnagel vor zehn Jahren noch Gefahr lief, sein international renommiertes Sommerfestival (Etat damals: 500.000 Euro) nicht finanzieren zu können, wirkt angesichts der 120 Millionen Euro, die heute für eine Generalsanierung bereit stehen, geradezu bizarr. Galt Kultur lange als Luxus mit Sparpotenzial, hat sich der Blick inzwischen grundlegend geändert. Einerseits, weil sich kulturelle Angebote tatsächlich „rechnen“ (in einer Kaufmannsstadt nicht unwichtig), anderseits weil Hamburg schlicht lebenswerter geworden ist, attraktiv nicht nur für Touristen, die natürlich alle mindestens auf die Elbphilharmonie-Plaza wollen, sondern auch für die Hamburger selbst.
Was nicht heißt, dass überall eitel Sonnenschein herrschte. Nach wie vor fehlen Probenräume für Nachwuchsbands, wartet Hamburg auf die ganz großen, spektakulären Ausstellungen, aber – anders als zur letzten Jahrzehntwende – heute ist das Bewusstsein für Mängel und Missstände vorhanden, es wird nach Lösungen gesucht und nicht mehr bloß mit den Schultern gezuckt, wenn es um kulturpolitische Weichenstellungen geht. Wer hätte das vor zehn Jahren für möglich gehalten.