Hamburg. In den Deichtorhallen ist die Ausstellung „Un’Antologia“ zu sehen. Es sind Bilder von Schmerz und Gewalt, Krieg und Zerstörung.
Das junge Mädchen ist vielleicht zwölf Jahre alt. Es kommt aus dem Dorf Bajurbuk im Nordirak und steht auf einem Feld in der Nähe von Bashiqa. Alles, was ihr geblieben ist, ist eine Trinktüte. Im Hintergrund, unscharf, ein Soldat der kurdischen Peschmerga. Das Mädchen ist aus seinem Dorf geflüchtet, nachdem die Terroristen des Islamischen Staates (IS) den Bewohnern mitgeteilt haben, sie am nächsten Tag nach Mossul zu bringen.
Paolo Pellegrin hat dieses Foto 2016 im Nordirak gemacht. Es ist eines von mehr als 200 größtenteils unveröffentlichten Bildern, die der italienische Fotograf nach zweijähriger Recherche in seinen Archiven nun in Hamburg präsentiert. Pellegrin zählt zu den bekanntesten Kriegsfotografen weltweit. Der 55-Jährige ist an der Seite der Menschen, wenn der Krieg über sie hereinbricht. So wie in Bashiqa, berühmt für seine Olivenbäume, wo über Jahrhunderte Jesiden und Schabak, christliche Assyrer und arabische Muslime friedlich zusammen gelebt haben.
Kein Lachen, kein Frohsinn, keine Freude
Die Menschen, die leiden müssen, sagt dieses Bild, können nichts für den Krieg. Sie werden von einem Tag auf den anderen zu Flüchtlingen. Sie rennen um ihr Leben. Am schlimmsten trifft es die Kinder und die Alten.
Trauer, Trümmer, Tote. Verletzte, Verwundete, Verzweifelte. Kein Lachen, kein Frohsinn, keine Freude. Die Welt, die Paolo Pellegrin uns zeigt, ist farblos und dreckig. Die Grundlage für seine Arbeiten aber ist die Würde des Menschen. „Eine Grundregel ist, dass ich mir immer darüber bewusst bin, dass ich einen Menschen vor mir habe“, sagt Pellegrin. „Und oft sind die Menschen, die ich fotografiere, machtlos. Erleben Momente extremen Leids und tiefe Konflikte. Also ist ein Eckpfeiler meiner Arbeit, auf die Menschen vor meiner Kamera Acht zu geben, auf sie aufzupassen.“
Empathie und Parteilichkeit für die Opfer hat Dirk Luckow, Intendant der Deichtorhallen, das gestern bei der Eröffnung der Ausstellung „Un’Antologia“ genannt. Das Publikum kam in Scharen, die Schlange draußen wurde immer länger. Drinnen standen die Besucher manchmal minutenlang stumm vor den großformatigen Bildern.
Bilder zeigen die Schattenseiten des Lebens
Sie zeigen Häftlinge in Kambodscha und Festgenommene auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens in Miami. Flüchtlinge aus dem Kosovo und Leichen von IS-Kämpfern. Schwer verletzte Kinder aus Gaza oder das zerstörte Hochhaus in Dahieh, einer Hisbollah-Hochburg in Beirut, nach einem israelischen Luftangriff. „Es geht Paolo Pellegrin nie um Sensationsfotografie“, sagt Dirk Luckow. Seine Bilder über die Schattenseiten des Lebens, über den Zerfall von Städten seien manchmal „still und anklagend“, und manchmal würden sie „wie aufkommende Sturmattacken“ über den Betrachter herfallen.
Paolo Pellegrin versteht sich als Chronist, der das Weltgeschehen einfängt und vielleicht einen kleinen Teil dazu beitragen kann, dass sich die Dinge zum Besseren wenden: „Eugene Smith hat mal gesagt: Die Fotografie hat eine leise Stimme. Aber es gibt Momente in der Geschichte, in denen diese leise Stimme zusammen mit anderen Stimmen, von anderen Fotografen, Filmemachern und Journalisten, eine kritische Masse erreicht und so in den öffentlichen Diskurs einfließt“, sagt er.
Für Ingo Taubhorn, den Kurator im Haus der Photographie, besteht die großartige Leistung von Pellegrin auch darin, dass er seit 20 Jahren die Orte und Regionen auf der Welt besucht, „die wir nur aus den Nachrichten kennen“. Wegen Krieg oder auch wegen des Klimawandels verlassene und unbekannte Orte mit namenlosen Menschen. Seine Bilder legten Zeugnis ab.
Bilder haben eine schmerzhaften Intensität
Pellegrin selbst sagt dazu, wenn es, bei aller Unvollkommenheit der Medienwelt, da draußen keine Journalisten und Fotografen mehr gebe, wüsste bald niemand mehr, was an diesen entlegenen Orten auf dem Globus wirklich los sei. Seine Bilder, sagt der italienische Kunsthistoriker Germano Celant, seien auch Teil von Pellegrins eigener Geschichte. „Weil er das Bedürfnis hat, die Verantwortung unserer Kultur für diese dramatischen Ereignisse durch seine Anwesenheit zu bezeugen.“
Was ist ein gutes Foto? „Ein gutes Bild ist für mich eins, das etwas zu sagen hat“, sagt Pellegrin. „Bei dem der Betrachter eine Verbindung herstellen kann, weil es einen Schlüssel darstellt. Oder eine Saat, die uns dazu bringt, sich mit einer Sache zu beschäftigen.“
Und noch etwas vermögen diese Bilder. Sie zeigen dem Betrachter mit einer schmerzhaften Intensität, wie zufällig Menschen zu Flüchtlingen werden, wie wenig selbstverständlich die Abwesenheit von Krieg ist und wie mächtig wir uns für die Demokratie ins Zeug legen müssen.