Hamburg. Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead las im ausverkauften Hamburger Literaturhaus aus seinem neuen Roman „Die Nickel Boys“.

Als Colson Whitehead 2004 zum ersten Mal zu einer Lesung nach Hamburg kam, wollte ihn noch kaum jemand hören. „Es war ein Wintertag, es schneite und ungefähr fünf Leute kamen“, erinnert er sich. Seit er 2016 den Pulitzer-Preis für seinen Roman „Underground Railroad“ erhalten hat, änderte sich das Publikumsinteresse schlagartig. In Hamburg las er damals im Rolf-Liebermann-Studio, bei seinem vierten Besuch in Hamburg ist das – ausverkaufte – Literaturhaus Ort von Lesung und Gespräch (Moderation: „Spiegel“-Redakteurin Susanne Weingarten).

Realer Hintergrund des aktuellen Romans „Die Nickel Boys“ sind die Zustände an einer Besserungsanstalt für Jugendliche in Florida. Diese sogenannte Reformschule wurde 2011 nach 100 Jahren geschlossen, 2014 entdeckte man auf dem Gelände anonyme Gräber und fand die Leichen von Jugendlichen, die massive Verletzungen aufwiesen, und die offensichtlich schwer misshandelt worden waren.

Whitehead steigt immer im Literatenhotel Wedina in St. Georg ab

„Der Fall sorgte damals einen Tag lang für Schlagzeilen in den USA. Das war’s. Mich hat dieser Fall so empört, dass ich ein anderes Romanprojekt, das ich begonnen hatte, beiseite gelegt habe, um über diesen Skandal zu schreiben“, erzählt Whitehead am Nachmittag im Literatenhotel Wedina in St. Georg, wo er jedes Mal absteigt, wenn er nach Hamburg kommt. Im Roman nennt er die Anstalt Nickel Academy, die Nickel Boys sind zwei Jungen, einer schwarz, der andere weiß, die Anfang der 1960er-Jahre gemeinsam diese Zeit durchleiden.

Im Gegensatz zu seinem Sklaverei-Roman „Underground Railroad“, der einige fantastische Elemente enthält, hat Whitehead für „Nickel Boys“ eine realistische Form gewählt. Kurz und prägnant, ohne besondere literarische Finessen, erzählt er vom Leben dieser Kinder und Jugendlichen in der Nickel Academy und vom sogenannten White House, einem Geräteschuppen, in dem die Jungs von den Aufsehern nachts halbtot geprügelt werden, wenn sie sich nur eines kleinen Vergehens schuldig gemacht haben. Seine Hauptfigur ist der schwarze Elwood. Durch ein Versehen gerät er ins Nickel, eigentlich ist Elwood ein Musterschüler, der aufs College gehört. Er überlebt, schafft es später nach New York – doch die Zeit im Nickel ist für einen schwarzen Jungen wie ihn besonders hart, die Aufseher sind zutiefst rassistisch.

Whitehead: Eine der wichtigsten Stimmen der afroamerikanischen Literatur

Im Literaturhaus berichtet der Schriftsteller am Abend mit warmer Stimme von seinen emotionalen Zuständen während des Schreibens: „Der Sommer 2014 war hart für die schwarze Gemeinschaft in den USA. Michael Brown wurde in Ferguson von einem weißen Polizisten erschossen, in New York starb Eric Garner bei seiner Festnahme, weil er zu Tode geschüttelt wurde. Je länger ich geschrieben habe, desto größer wurden meine Trauer und meine Wut. Am liebsten wäre ich mit ein paar Stangen Dynamit und einem Bulldozer nach Florida gefahren und hätte das Gelände dem Erdboden gleich gemacht.“ Das habe dann vor einem Jahr der Hurrikan „Michael“ erledigt, fügt Whitehead hinzu und man hört die Genugtuung in seiner Stimme. Die „Nickel Boys“ hätten ihn so sehr mitgenommen, dass er nach Abgabe des Manuskripts sechs Wochen lang nur Video Games gespielt habe.

Colson Whitehead, 1969 in New York geboren, stammt aus der oberen, gebildeten Mittelschicht. Er hat in Harvard studiert und zählt durch seine Werke zu den wichtigsten Stimmen der afroamerikanischen Literatur. „Ich hatte Lehrer, die mir schwarze Geschichte näher gebracht haben. Ich habe Toni Morrison und Ralph Ellison gelesen und weiß eine Menge über Sklaverei und die Jim-Crow-Gesetze. Aber an vielen Schulen sind das keine Themen oder sie werden nur sehr oberflächlich behandelt“, erzählt er.

Whitehead arbeitet an einer Liebesromanze

Mit „Underground Railroad“ und „Die Nickel Boys“ hat Whitehead, ein sympathischer Mann mit Rastalocken und Bart, sich gleich in zwei aufeinander folgenden Romanen mit dem sogenannten institutionellen Rassismus beschäftigt. „Sklaverei hat Amerika reich und mächtig gemacht“, sagt er. Mit seinen Romanen gibt er den Unterdrückten eine Stimme und beschreibt ihre Leiden konkret und empathisch gleichermaßen.

Sein aktuelles Projekt überrascht in dieser Reihe: Whitehead arbeitet an einer Liebesromanze am Vorabend der Russischen Revolution. Außerdem habe er die Arbeit an seinem Harlem-Krimi wiederaufgenommen, der in den 1960er-Jahren spielen soll und sich an Vorbildern wie Richard Stark orientiert. „Ich laufe viel durch Harlem und recherchiere dort. Meine Eltern haben dort gewohnt. Das macht gerade sehr großen Spaß.“