Frankfurt/Main. Der Fotograf Sebastião Salgado erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Wie der Brasilianer für den Regenwald kämpft.
Sie nennen ihn den „Mahner ohne Worte“. Seine Bildreportagen, meist jahrelange Projekte, zeigen die Ausbeutung von Mensch und Natur. Seine Themen sind Armut und Flucht, Heimatlosigkeit und Krieg. „Meine Fotografie ist kein politisches Engagement, kein Beruf. Sie ist mein Leben“, sagt Sebastião Salgado. Als bisher erst zweiter Bildkünstler hat der brasilianische Fotograf am Sonntag den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. „Mit Sebastião Salgado zeichnet die Jury einen Bildkünstler aus, der mit seinen Fotografien soziale Gerechtigkeit und Frieden fordert und der weltweit geführten Debatte um Natur- und Klimaschutz Dringlichkeit verleiht.“
Der 75-jährige Sebastião Salgado hat Flüchtlingslager in Ruanda und dem Libanon, im Südsudan und dem Kosovo besucht. Er hat Massaker und Völkermorde dokumentiert, mit Ureinwohnern im Dschungel, Indianern am Amazonas und Goldgräbern in Brasilien gelebt. „Ich habe stets versucht, die Menschen in Würde zu zeigen“, schreibt Salgado in seiner jetzt erschienenen Biografie „Mein Land, unsere Erde“ (Nagel & Kimche, 22 Euro).
Salgado empfand ethische Verpflichtung
Er hat die Opfer von Grausamkeit fotografiert, nachdem sie ihr Haus verloren oder die Ermordung ihrer Kinder mitangesehen haben. Er hat diese Aufnahmen gemacht, „weil ich eine moralische, ja ethische Verpflichtung dazu hatte“. Was ist in solch quälenden Augenblicken Moral? Ethik? „Es ist der Moment, wenn ich jemandem beim Sterben in die Augen sehe und entscheide, ob ich den Auslöser meiner Kamera drücke oder nicht.“
Irgendwann aber waren seine Bilder für das Projekt „Exodus“ auch für ihn zuviel. Salgado wurde krank. Und verlagerte seinen fotografischen Schwerpunkt zunehmend auf die Natur. 2004 startete sein Projekt „Genesis“. „Für ‘Exodus’ hatte ich die schlimmsten und brutalsten Seiten unserer Spezies gesehen. Und ich hatte nicht mehr daran geglaubt, dass sie zu retten sei. Die Arbeit an ‘Genesis’ hat meine Meinung geändert.“ Er hatte bereits die ganze Welt bereist, „aber dieses Mal hatte ich das Gefühl, in sie hineinzugehen“, sagt Salgado. „In Genesis sprach die Natur durch meine Kamera zu mir. Und ich durfte zuhören.“
In Brasilien mit der Natur aufgewachsen
Der Fotokünstler näherte sich Gestein, Pflanzen und Tieren. „Und dann sah ich auch uns, wie wir zu Zeiten des menschlichen Ursprungs waren.“ Die Begegnungen mit zahlreichen Naturvölkern wie den sanftmütigen Zo’és in Brasilien oder den nahezu besitzlosen Nenzen in Sibirien gab ihm Trost. „Denn der ursprüngliche Mensch ist sehr stark.“ Er besitze etwas, „was wir als Städter verloren haben: Instinkt“.
Auch Salgado ist mit der Natur aufgewachsen, als Sohn eines Farmers im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais in einem breiten Tal. „Das Tal ist so groß wie Portugal.“ Sie waren autark, produzierten Reis und Kartoffeln, Obst und Tomaten, Milch und Fleisch. Sein Vater war der Besitzer, er hatte Angestellte, von denen jedoch jeder eigenes Vieh besaß und Land bestellte. „Keiner war reich, keiner war arm.“ Der Junge schwamm in Bächen, ritt auf seinem eigenen Pferd und träumte davon zu sehen, was hinter dem Horizont lag.
Mit 20 Jahren lernte er die damals 17-jährige Studentin Lélia kennen. Als Brasilien 1964 durch einen Staatsstreich eine Militärdiktatur geworden war, flüchteten sie im August 1969 mit dem Schiff nach Frankreich. „Als wir an Bord des Schiffes gingen, wussten wir: Wenn man uns erwischt, wird man uns ins Gefängnis werfen und foltern.“ Inzwischen sind sie seit 50 Jahren verheiratet, „und ich finde sie immer noch wunderschön“. Krisen gab es, natürlich, sie haben sie überstanden. „Wir hatten dramatische Streits. Wir hatten sogar ein Scheidungsverfahren begonnen und viele Male standen wir kurz vor der Trennung!“ Aber die beiden scheinen unzertrennlich. „Ich weiß nicht, wo ich anfange und wo sie aufhört“, schreibt Sebastião Salgado. „Wir sind dort angekommen, wo wir sind, weil wir zu zweit sind.“
Salgado dokumentiert sein eigenes Aufforstungsprojekt
Die Leidenschaft in ihrem Engagement für eine bessere Welt ist ein verbindendes Element. „Wir alle müssen uns eingestehen, dass die Konsumgesellschaft, deren Teil wir sind, zahllose Bewohner dieser Erde ausbeutet und verarmen lässt.“ Das Paar gründete das „Instituto Terra“, eine Einrichtung zur Wiederbelebung von Biodiversität und Ökosystemen. In Salgados Kindheit hatte der Atlantische Regenwald noch die Hälfte der Flächen in seinem Tal bedeckt. „Doch das war, bevor Brasilien in großem Stil in die Marktwirtschaft einstieg und man wie überall begann, den Wald zu zerstören.“ Vor rund 20 Jahren begannen der Fotograf und seine Frau deshalb, die zerstörte Fläche, die sie von den Eltern übernommen hatten, wieder aufzuforsten. „Wir waren verrückt genug, das Abenteuer zu wagen, und plötzlich wuchsen wieder Bäume.“
Sie sammelten Verbündete, Experten und Geldgeber. Sie schufen den ersten Nationalpark Brasiliens auf vollkommen verödetem Gebiet. „Als Naturschutzgebiet darf es nie wieder als Anbaufläche dienen.“ Bis heute haben sie mehr als zwei Millionen Bäume aus mehr als 300 Sorten gepflanzt. „Und wir sind noch nicht fertig: Wir hoffen, dass wir bis etwa 2050 nicht nur die Wiederaufforstung unseres Naturschutzgebietes vollenden, sondern dazu 50 Millionen Bäume in dem großen angrenzenden Tal pflanzen können.“ Denn: „Nur Bäume sind in der Lage, das CO2, das wir produzieren, zu verwerten. Der Baum ist die einzige Maschine, die CO2 in Sauerstoff umwandeln kann. Der Wald verwertet unseren Schmutz und verwandelt ihn in Holz. Das ist phänomenal.“
Farbe interessiert ihn in der Fotografie nicht
Auch dieses Projekt dokumentiert Salgado seit vielen Jahren. Wie immer in schwarz-weiß. „Ich brauche weder Grün, um die Bäume zu zeigen, noch Blau für Meer oder Himmel. Farbe interessiert mich in der Fotografie wenig.“ Natürlich sei die Realität eine andere. „Aber wenn wir ein Schwarz-Weiß-Bild betrachten, durchdringt es uns, wir verarbeiten es, setzen es unbewusst in Farbe, eignen es uns an. Ich halte die Kraft von Schwarz-Weiß wirklich für außerordentlich“, schreibt Salgado.
„Indem Salgado seine aufrüttelnden, konsequent in schwarz-weiß gehaltenen Bilder als ‘Hommage an die Größe der Natur’ beschreibt und die geschändete Erde ebenso sichtbar macht wie ihre fragile Schönheit, gibt er uns die Chance, die Erde als das zu begreifen, was sie ist“, hat die Jury ihre Entscheidung begründet und könnte damit gar nicht näher am bestimmenden Thema dieser Zeit sein. „Als einen Lebensraum, der uns nicht allein gehört und den es unbedingt zu bewahren gilt.“
Preisträger
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird seit 1950 vergeben. Die letzten Preisträger vor Sebastião Salgado waren:
- 2018: Aleida und Jan Assmann (deutsche Kulturwissenschaftler)
- 2017: Margaret Atwood (kanadische Schriftstellerin)
- 2016: Carolin Emcke (deutsche Publizistin) 2015: Navid Kermani (deutscher Schriftsteller und Orientalist)
- 2014: Jaron Lanier (US-Digitalpionier und Schriftsteller)
- 2013: Swetlana Alexijewitsch (weißrussische Schriftstellerin)
- 2012: Liao Yiwu (chinesischer Schriftsteller)
- 2011: Boualem Sansal (algerischer Schriftsteller)
- 2010: David Grossman (israelischer Schriftsteller)