Hamburg. Heftig feiern als Kulturpessimist: Mit Deichkind und dem neuen Album „Wer sagt denn das?“, auf dem auch viele Gäste zu hören sind.
„Impulsive Menschen kennen keine Grenzen, schmeißt die Möbel aus dem Fenster, wir brauchen Platz zum Dancen“: Mit Songs wie „Remmidemmi“, „Arbeit nervt“, „99 Bierkanister“ oder „So’ne Musik“ lieferte die Hamburger „Electric Super Dance Band“ Deichkind seit ihrer Abkehr vom Hip-Hop 2006 den Soundtrack für die Generation Cornern. Vor allem die Liveshows wie der Geheimauftritt vor einer Woche beim Reeperbahn Festival mit ihrem strukturierten Chaos auf der Bühne hatten Züge eines modernen Bacchanals. Der stets vorhandene kritische Subtext in Deichkinds Liedern ging vor dem Millerntorstadion mal wieder in einer Bierdusche unter.
Doch jetzt ist die Sause augenscheinlich vorbei: „Schluss mit Remmidemmi, das hört jetzt hier sofort auf, ey Leute, aus dem Alter ist man doch mal langsam raus“, heißt es in „Keine Party“ auf dem neuen Album „Wer Sagt Denn Das?“. Ja, wer sagt denn das? Die drei Deichkinder Kryptik Joe (Philipp Grütering), Porky (Sebastian Dürre) und La Perla (Hennig Besser), die in ihrem Büro hinter blinden Fenstern unweit des Corner-Hotspots Neuer Pferdemarkt ihr beachtliches, 18 Songs umfassendes Magnum Opus vorstellen.
Deichkind langweilt das Image der Partyband
„,Keine Party’ zeigt die Ambivalenz in uns. Wir werden als Partyband wahrgenommen, aber das langweilt uns“, sagt Kryptik Joe, und auch Porky rollt keine Fässer mehr in die Meute: „Man versucht, seinem Alter entsprechend etwas Gesittetes zu machen.“ Wobei das im Wortsinn krachend scheitert, denn tanzbar ist „Keine Party“ natürlich trotzdem. Schauspieler Lars Eidinger („25 km/h“, „Babylon Berlin“), der offensichtlich auf die Deichkind-Anfrage, wie viele Deichkindvideos er drehen könnte, einfach „ja“ sagte (dieses Jahr sind es bislang vier), zertanzt im an Kap Bambinos Clip „Hey!“ (2008) angelehnten Video halb Berlin. „Der Beat schlägt jegliche Rente in Stücke“, gibt auch Porky zu. Und im jüngst veröffentlichten Video zu „Dinge“ fliegen ja doch wieder Möbel aus dem Fenster. Latente Ambivalenz überall.
Zu den Songs, die keine Partylieder sein sollen, und trotzdem die Party rocken, gehört auch „1000 Jahre Bier“, das man sowohl als an Rammstein erinnernde Zecherhymne als auch auf Allegorie auf 1000 Jahre deutsche Leidkultur, Alkoholismus und die Folgen sehen kann: „Aftershowparty am Hinrichtungstag: Hurra, die Hexe brennt, schenk noch mal nach“, brüllen „offene Mäuler mit frostigen Gaumen“. „Wir wollen eigentlich keine Sauflieder mehr machen, weil die uns einfach nicht mehr interessieren“, sagt Kryptik Joe, „aber wir arbeiten viel titelorientiert. Porky hatte die Idee für den Songnamen, und die Nummer schrieb sich dann wie von selbst. Ob es da eine politische Meta-Ebene gibt, muss jeder für sich entscheiden.“
Als Gesamtkunstwerk ist Deichkind eine politische Band
Für La Perla, bis 2011 als DJ Teil von Deichkind auf der Bühne und mittlerweile für die Regie und Choreografie der Shows zuständig, gibt es ganz gewiss eine politische Meta-Ebene. „In meiner Wahrnehmung werden Themen wie Populismus und Rechtsruck in der Gesellschaft in der Haltung von Deichkind widergespiegelt, vielleicht nicht dezidiert in einzelnen Songs, Teilen der Show, Aktionen oder in Interviews. Ein einzelnes Element kann der Komplexität dieses Themas nicht gerecht werden. Aber in der Gesamtschau ist mir wichtig, dass unsere Sichtweise deutlich wird.“
Alle drei betonen, dem Zeitgeist nicht hinterher zu rennen, sie empfinden aber trotzdem den Themenkanon des Albums sowohl persönlich als auch gesellschaftlich relevant. Ohne den vor einem Jahr ausgestiegenen Rapper Ferris MC, aber begleitet von den Gastkünstlern Das Bo, Joey Bargeld, Bela B, Felix Kummer, Alexander Marcus, Jan Böhmermann, Olli Schulz, Charlotte Brandi und einem geheimen Geheimstar bei „1000 Jahre Bier“ widmet sich Deichkind aktuellen Phänomenen wie Serien-Streamingmarathons („Cliffhänger“), Festival-Hedonismus („Bude voll People“), Autonomes Fahren („Endlich Autonom“), Smartphone-Wahn („Powerbank“) und Konsumgier („Dinge“, „Gewinne Gewinne“).
„Richtig gutes Zeug“ wäre der passendere Albumtitel
Aus der Box dröhnt der Sound mörderisch laut am Limit, die Produzenten und Mischer Roland Knauf, Olsen Involtini (Rammstein) und Philipp Hoppen (Die Ärzte) bauen eine Rampe aus Electro-Rock, Synthie-Pop, Disco-Funk und Trap, auf der die Lieder direkt ins Gemüt der Hörenden rutschen. Das Lied „Richtig gutes Zeug“ bringt Deichkinds Comeback auf den Punkt – und wäre auch der passendere Albumtitel gewesen.
Auch wenn nicht alle 18 Lieder unbedingt auf das Album gemusst hätten, so hat die länger als übliche Auszeit seit dem Nummer-eins-Vorgänger „Niveau Weshalb Warum“ (2015) dem Trio und ihren angeschlossenen Gewerken, wie es die seit Jahren bestehende Crew aus Musikern, Designern und Labelmitarbeitern nennt, gut getan.
Deichkinds Porky wider den Kulturpessimismus
Aus der Rückschau auf 20 Jahre Deichkind gewannen sie neue Zukunftsvisionen, die man als Zeitkapsel eingraben könnte, um in 1000 Jahren zu hören, wie die Konsumgesellschaft 2019 kippte. „Die Zeit ist komplizierter und schwieriger geworden, auch für das künstlerische Selbstverständnis“, sagt Kryptik Joe zu den dystopischen Eindrücken, die das siebte Deichkind-Album hinterlässt. Auch Porky hat „ein innerliches Unbehagen dabei, eine kulturpessimistische Platte zu machen, obwohl auch ,Aufstand im Schlaraffenland’ 2006 sehr düstere Momente hatte.“
Aber vielleicht verfliegen die dunklen Anwandlungen beim ausverkauften Konzert am 7. März in der Barclaycard Arena, wenn 12.000 Fans kaum wahrnehmen, was für eine Mühe in diesem Kindergeburtstag für Erwachsene steckt: „Ich war ja bis 2011 mit auf der Bühne und habe die Show 2012 erstmals aus Zuschauerperspektive gesehen“, sagt La Perla, „das ist total irre. Da bemerkst du Details, die du als Regisseur monatelang geplant hast – und es interessiert kein Schwein!“ Wer sagt denn das?
Deichkind: „Wer sagt denn das?“ Album (Sultan Günther Music) ab 27.9. im Handel; Konzert: 7.3.2020, Barclaycard Arena (ausverkauft); www.deichkind.de