Hamburg. Die Theater- und Filmlegende liest beim Literaturfestival „Tage des Verlassenwerdens“. Mit Lust wirft sie sich in das Gemetzel.

Wolfgang Stockmann vom St.-Katharinen-Gemeinderat ist enttäuscht: Elena Ferrante ist nicht da. Das war allerdings zu erwarten – die italienische Bestsellerautorin schreibt seit den 1990ern aus dem Schutz der Anonymität heraus, da wird sie ihre Tarnung nicht zur Lesung in der Katharinenkirche beim Harbour Front Literaturfestival aufgeben. Allerdings will Ferrantes deutscher Lektor Frank Wegener die Hoffnung nicht ganz zerstören. Vielleicht ist die Schriftstellerin ja doch im Raum, und man erkennt sie nur nicht? Weiß ja niemand wie sie aussieht? Egal, es gibt Ersatz: „Eva Mattes ist nicht nur auf dem Papier anwesend, sondern leibhaftig!“

Mattes, hochdekorierte Theater- und Filmlegende, ist die Stimme der deutschen Ferrante-Hörbücher. Bei Harbour Front liest sie nicht aus der immens erfolgreichen „Neapolitanischen Saga“, sondern aus dem 2002 auf Italienisch erschienenen „Tage des Verlassenwerdens“, einem Roman über eine zerbrechende Ehe. Und Mattes liest den Text traurig, kühl, mit der mädchenhaft hellen Stimme, die die Mittsechzigerin mit zunehmendem Alter zu einer immer spannenderen Schauspielerin macht: „An einem Abend im April (…) erzählte mir mein Mann, dass er mich verlassen wolle“, so unspektakulär beginnt Ferrante und lässt noch nicht ahnen, dass die Protagonistin im Fortgang immer poröser werden wird, immer weiter in Richtung Kontrollverlust taumelt.

"Ferrantes Bücher sind keine Frauenromane"

Mattes kostet dieses Taumeln aus, sie dehnt die detailverliebten Textdrechseleien, die Relativsätze, die Einschübe, die Alliterationen, und weil sie diese Sprachverknotungen ohne Stolpern meistert, erkennt man die Hörbuch-Spezialistin. „Sie kreischte und umklammerte krampfhaft den Griff eines Kinderwagens“, das grenzt ans Manierierte, aber so wie Mattes das liest, funktioniert es, wird aus der Wortdrechselei die klare Beschreibung einer unangenehmen Begegnung.

„Man liest den Text mit Vergnügen“, beschreibt Mattes ihren Zugriff, „weil man sich gut identifizieren kann mit dieser Frau.“ „Aber nicht nur mit der Frau!“, wirft Lektor Wegner ein. Es stimmt schon, der Großteil des Publikums in der Katharinenkirche ist weiblich, und Ferrante hat den Ruf, das zu produzieren, was despektierlich „Frauenliteratur“ genannt wird, aber: „Ferrantes Bücher sind keine Frauenromane“, meint Wegner, „sondern wahrhaftige Menschenromane“.

Zumindest „Tage des Verlassenwerdens“ wird mit zunehmender Dauer immer härter, immer unmenschlicher. „Das ist lustig, gemein, pervers“, freut sich Mattes, und dann liest sie noch ein Kapitel, in dem das Blut spritzt, in dem aus der Trauer über die zerbrochene Liebe in Richtung Splatter rutscht. Und spätestens als sich die Sprecherin mit Lust in dieses Gemetzel wirft, fehlt einem die echte Autorin gar nicht mehr. Weil Mattes wie jede leidenschaftliche Lesende den Text zu ihrem eigenen gemacht hat.

Das Harbour Front Literaturfestival läuft noch bis zum 15. Oktober. Infos und Programm: www.harbourfront-hamburg.com