Hamburg. 10.000 Besucher feierten Kent Nagano und die Philharmoniker beim zweiten „Rathausmarkt Open Air“. Es soll Hamburger Tradition werden.
Das nennt man wohl perfektes Timing. Pünktlich zum Open-Air-Konzert des Philharmonischen Staatsorchesters haute der letzte August-Tag noch mal so richtig einen raus. Laue Luft und Sommerwärme auf dem Rathausmarkt, selbst am späten Abend. Sehr angenehm. Zumindest, wenn man nicht auf der Bühne sein und spielen muss, sondern bloß zuhören will. Und das wollten viele. Richtig viele. Alle 2500 bestuhlten Plätze waren schon eine halbe Stunde vor Konzertbeginn besetzt, dahinter standen, saßen und lagen die Besucher bis weit nach hinten zu den Alsterarkaden. Manche sogar mit Decken, selbstgebrachten Stühlen und Kaltgetränken gewappnet.
Auf rund 10.000 Menschen schätzten die Veranstalter den Andrang zum „Rathausmarkt Open Air“, wie Opern-Intendant Georges Delnon stolz verkündete, der als Moderator durch den Abend führte. Damit war die Zahl der Vorjahrespremiere weit übertroffen. Auch technisch hatten er und sein Team noch mal nachgerüstet. Für die zweite Ausgabe des Open-Air-Konzerts – das zu einer Tradition werden soll – wurde der elektronisch verstärkte Sound ordentlich aufgepimpt. Es hat sich gelohnt. Was da aus den Boxentürmen schallte, klang richtig gut und hatte so gar nichts mit dem Blechdosen-Charme zu tun, der einem früher bei solchen Veranstaltungen ins Ohr quäkte.
Brahms’ erste Sinfonie, Auftakt zur lebendigen Interpretation
Die erste Sinfonie von Brahms, mit der das Programm begann, ist ja ziemlich groß besetzt und extrem dicht komponiert, da gibt’s einiges abzubilden. Wie transparent und zugleich homogen das gelang, zeigte schon das weiträumige Crescendo in der langsamen Einleitung, das sehr differenziert rüberkam. Der Auftakt zu einer lebendigen Interpretation.
Angetrieben von ihrem Chef Kent Nagano – der erstaunlich temperamentvoll dirigierte – und mitgeführt von einem exzellenten Gastkonzertmeister, formten die Philharmoniker einen warmen Ton und packende Spannungsbögen, etwa im dritten Satz der Sinfonie, dessen Mittelteil Nagano in eine mitreißende Steigerung trieb.
Sieben Kameras übertrugen das Bühnengeschehen
Das war über weite Strecken beseelt und aufregend anzuhören – und außerdem auch kurzweilig anzusehen. Sieben Kameras übertrugen und vergrößerten das Bühnengeschehen auf eine Videoleinwand und zeigten Details, die man sonst nicht mitbekommen hätte. Den Pauker mit gepflegtem Rauschebart, der vor dem Konzert noch schnell ein Selfie schießt und seine Achtelnoten manchmal mit den Augenbrauen mitzuklopfen scheint.
Die Kontrabassistin in der hinteren Reihe, die sich so herrlich über die eckigen Rhythmen gegen Ende des ersten Satzes freut. Oder den Oboisten, der das sangliche Solo im zweiten Satz hinreißend bläst
Auch beim Chef floss der Schweiß
Dass nicht alle Menschen beim konzentrierten Musikmachen gleich vorteilhaft aussehen, dass bei einigen Orchestermitgliedern und ihrem Chef reichlich Schweiß fließt, dass die Kamera manchmal einen Moment nach der richtigen Einstellung sucht: all das stört überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Das ist live, das ist echt, das macht die Klassik nahbar. Darum geht’s an diesem Abend, und das gelingt ganz hervorragend.
Der zweite Teil endete mit „Rhapsody in Blue“
Auch im zweiten Teil, der mit Gershwin startet und dafür zwei exzellente junge Sänger aus dem Ensemble der Staatsoper präsentiert. Den Tenor Oleksiy Palchykov, der mit hellem, vielleicht für diese Musik eine Spur zu klarem Timbre „I Got Rhythm“ schmettert. Und die zauberhafte Sopranistin Elbenita Kajtazi, die ihr „Summertime“ und „Someone To Watch Over Me“ einen Hauch soulig und dunkel einfärbt und dabei mit einer natürlichen Präsenz für sich einnimmt. Bei ihr leuchtet etwas mit, in der Stimme und in der Aura, so eine Art energetisches Schimmern, das man wahrscheinlich nicht lernen kann, sondern in sich tragen muss. Das tut sie.
Der Gershwin-Teil endete mit der „Rhapsody in Blue“, bei der Nagano und sein Orchester womöglich noch einen Tick mehr hätten grooven dürfen. Aber da steht sowieso vor allem der Solist im Mittelpunkt. Und was Gilles Vonsattel auf und am Flügel an Farben und Rhythmen rausholte, wie seine Finger da über die Tasten rasten, als wären es kleine Krabbelwesen auf Dope, das war schon stark.
Brahms’ Ungarischer Tanz als Zugabe zum Mitklatschen
Danach stellte sich so ein leichtes Schlussgefühl ein, einige Plätze wurden frei. Aber es ging noch weiter, mit einem fetzigen Ligeti und zwei Uraufführungen von Stefan Schäfer, Solo-Kontrabassist im Philharmonischen Staatsorchester. Er hat sich und seinen Kollegen zwei Stücke mit nostalgischem Hamburg-Flair gegönnt, als Mitbringsel für die bevorstehende Japan-Tournee. „Fairy Lake“ beschwört den Zauber der Alster, mit pittoresker Tonplätscherei und der Melodie von „Dat du min Levsten büst“, „Magic District“ ist eine Hommage an Hamburgs sündige Meile, mit griffigen Rhythmen und schicken Farbmischungen, passenderweise bei Rotlicht gespielt. Eine hübsche Pointe.
Das Publikum feierte die angenehme, zugängliche Musik, Dirigent und Orchester und die gute Stimmung – und geriet bei der Zugabe, im berühmten fünften Ungarischen Tanz von Brahms, ganz selbstverständlich ins Mitklatschen. Ausgelassenes Freiluft-Feeling auf dem Rathausmarkt. Strahlende, ja beglückte Gesichter, wohin man schaute. Und der leise Wunsch, dass immer solch ein Sommerabend sei.