Hamburg. Mit „Die Katze und der General“ bringt Jette Steckel den neuen Roman von Nino Haratischwili auf die Thalia-Bühne. Ein Doppelinterview.

Sie haben es schon einmal gemeinsam hingekriegt. Das große Georgien-Epos „Das achte Leben (Für Brilka)“, jener hochgelobte fast 1300 Seiten starke Roman der deutsch-georgischen Schriftstellerin Nino Haratischwili, läuft seit mehr als zwei Jahren in einer beglückenden Inszenierung von Jette Steckel am Thalia Theater. Steckel und Haratischwili kennen sich seit Jahren, sie haben zusammen an der Theaterakademie in Hamburg Regie studiert. Nun soll der im Herbst 2018 erschienene (und damals direkt für den Deutschen Buchpreis nominierte) Roman „Die Katze und der General“ die Hamburger Theatersaison am Thalia eröffnen. Wieder ist es mit nahezu 800 Seiten ein ausgesprochen umfangreiches und eigentlich nicht für die Bühne gedachtes Werk, wieder spielt sich ein Großteil im Kaukasus ab; das Thema – der Tschetschenienkrieg und seine Folgen – ist sperriger als beim ersten Mal. Die Uraufführung ist am 31. August, die Endproben haben begonnen.

Diesen riesigen, komplexen Roman für die Bühne zu bearbeiten – wo fängt man da an?

Nino Haratischwili Beim Schreiben gehe ich natürlich erst einmal gar nicht davon aus, dass es für das Theater oder für einen Film machbar sein muss. Beim „Achten Leben“ konnte ich mir gar nicht vorstellen, wie die das für die Bühne hinkriegen wollen. Aber sie haben es ja hingekriegt! Hier ist es schon durch die riesigen Zeitsprünge kompliziert.

Sind Sie involviert in die Theaterfassung?

Haratischwili Nein. Mir würde der Abstand fehlen. Ich habe es ja schon so gemacht, wie ich es richtig finde – im Roman. Mein Job ist erledigt, Jette muss es jetzt transformieren. Zwischen uns gibt es da ein Grundvertrauen.

Jette Steckel Das Buch ist ja auch ein Krimi, ein Thriller, das hat uns zu einer Dramaturgie geführt. Man bekommt immer nur soviel gesagt, dass man den Wissensstand der Figur nachvollziehen kann. Wir versuchen, mit Spannung zu arbeiten. Das habe ich auf dem Theater so noch nie gemacht und so auch noch nie gesehen. Wir haben sehr viele kurze Szenen, die sich – im Sinne des Zauberwürfels, der im Roman eine wichtige Rolle spielt – dann hoffentlich zu einem Bild zusammensetzen. Die Frage ist immer: Auf wieviel kann man verzichten, damit das Publikum noch kombinieren kann?

Was ist für Sie der Kern dieser Geschichte?

Steckel Es geht um das Verbergen von unrechtmäßigen Handlungen, und zwar von Staaten und Menschen. Um das Verbergen der Unmenschlichkeiten und Eigennützigkeiten, die wir alle ständig begehen und verdrängen. Und viel zu oft werden diejenigen, die die Wahrheit aufdecken, dann zu Verbrechern erklärt. Die konkrete Schuld, die jemand auf sich lädt, indem er jemandem die Kehle zudrückt, setzt sich irgendwo in einer indirekten Schuld, die Kriegsführung oder Kriegsförderung heißt, fort.

War es der Plan, einen Antikriegsroman zu schreiben? Einen moralischen Roman?

Haratischwili Kein Plan, eher eine Fragestellung. Die ermordete Journalistin Anna Politkowskaja hat über ein Dorf geschrieben, in dem eigentlich kein Krieg herrschte, das aber von russischen Soldaten überfallen wurde und wo eine Frau vergewaltigt wurde. Ein realer Vorfall. Mich hat die Vorstellung nicht mehr losgelassen, dass es Menschen gibt, die durch den Krieg so kaputt sind, dass sie die Stille nicht aushalten. Das hat mir die Perversität noch einmal neu gezeigt: Diese Männer sind süchtig nach Gewalt, es ist wie eine Droge. Und dann hat das Zusammenbrechen der Sowjetunion natürlich auch mit mir zu tun. Tschetschenien ist ein Nachbarland von Georgien, ein Teil meiner Welt, auch wenn es sehr fremd ist. Außerdem habe ich einen Hang zu griechischen Tragödien - diese Geschichte, das könnte auch „Euripides“ sein, in der Gegenwart. Blutrache, die Willkür der Gewaltmaschinerie, der Menschen zum Opfer fallen, die damit gar nichts zu tun haben. Mit ist manchmal vorgeworfen worden, die Geschichte sei so konstruiert. Das finde ich paradox.

Vielleicht liegt eine solche Grausamkeit außerhalb der Vorstellungskraft vieler?

Haratischwili Dabei ist es gar nicht so weit weg, geografisch nicht und zeitlich nicht. Ich kann mir gar nichts ausdenken, womit ich die Realität an Grausamkeit übertrumpfen würde.

Jette Steckel, wieviel wussten Sie von Tschetschenien, bevor Sie sich mit dieser Inszenierung befasst haben?

Steckel Nichts, eigentlich. Das, was man aus den Nachrichten mitkriegt. Ich wusste um die extreme Gewalt. Durch die Beschäftigung mit Russland und Georgien kriegt man ein bisschen ein Gefühl für die Region, aber auch für die absurde Notwendigkeit, da einen Krieg am Laufen zu halten – die Putin anscheinend verfolgt.

Frau Haratischwili, Sie waren zur Romanrecherche in Tschetschenien. Das ist nicht ungefährlich.

Haratischwili Ich fand es anmaßend, über dieses Thema zu schreiben, ohne dort je gewesen zu sein. Oft erzählen Menschen ja ganz Widersprüchliches. Es ist zwar ein Nachbarland von Georgien, aber es ist doch sehr weit weg. Eine andere Kultur, eine andere Welt. Freunde und Familie waren natürlich besorgt, aber ich habe gedacht, das wird schon. Über die tschetschenische Minderheit in Georgien habe ich Kontakte und viele Tipps bekommen. Zwei sehr nette ältere Frauen, beide fünffache Mütter, waren meine Gastgeberinnen in Tschetschenien, ohne die beiden wäre ich aufgeschmissen gewesen. Aber es ist eine sehr gastfreundliche Kultur, man wird bewirtet, herumgeführt, die haben sich gefreut. Es gibt da ja sonst keinen Tourismus, und die mögen Georgier, da hatte ich einen Bonus. Aber viele Dinge waren sehr fremd. Ich war zum Beispiel davon ausgegangen, dass ich ein Kopftuch brauche – aber auch wenn viele jüngere Frauen ein Tuch tragen, war das kein Muss. Dafür fällt total auf, wenn man mit einer Hose herumläuft, was ich natürlich getan habe. Ich habe erst gar nicht kapiert, warum die Leute so komisch gucken. Und ich habe mit Männern dort nahezu kein Wort gewechselt. Es gibt eine extreme Geschlechtertrennung.

Hatten Sie keine Angst?

Haratischwili Die Angst in dieser Diktatur spürt man sehr. Ich bin natürlich nicht mit einem Diktiergerät herumgelaufen. Es ging ja nicht nur um mich, ich wollte auch nicht, dass jemand meinetwegen in Gefahr gerät.

Frau Steckel, Sie sind vor der Premiere von „Das achte Leben (Für Brilka)“ mit einigen Schauspielern nach Georgien gereist. Das habe für die Produktion einen Unterschied gemacht, haben Sie hinterher gesagt. Diesmal war eine solche Reise nicht möglich.

Steckel Ich hab es versucht. Ich wollte nach Tschetschenien, von unserem letzten Moskau-Gastspiel aus. Das ging natürlich gar nicht, unser Visum war auf Moskau beschränkt.

Haratischwili Ich habe auch abgeraten. Man kann dort nicht einfach so mit den Leuten sprechen, erst recht nicht über Kadyrow oder Putin. Vieles ist sehr willkürlich. Es ist wie auf einem zugefrorenen See, auf dem man sich ganz vorsichtig bewegen muss. Das Gefährliche ist, dass es keine klaren Regeln gibt.

Brauchten Sie solch eine intensive Beschäftigung mit Tschetschenien für Ihre Arbeit überhaupt, Frau Steckel?

Steckel Ich habe am Anfang alles gelesen, was irgendwie ging. Ich musste erstmal alles wissen um zu verstehen, was ich vielleicht weglassen könnte. Aber es spielt für die Inszenierung dann doch eine untergeordnete Rolle.

Haratischwili Es ist auch nicht wie beim „Achten Leben“, wo Georgien ja eine, wenn nicht sogar die Hauptrolle spielt. Natürlich sind die Ereignisse hier konkret in Tschetschenien verortet, aber es hätte auch in Syrien oder im Kongo spielen können.

Steckel Interessanter ist, dass die Männer sich während der Kernszene in einer Art Atempause befinden, nach Grosny, nach den ersten großen Schlachten. In dieser Stille bricht die Gewaltsucht durch. Es gibt tatsächlich etwas, was „Tschetscheniensyndrom“ genannt wird. Wenn nichts mehr gilt als Ausrottung, sind Menschen zu Unfasslichem in der Lage, weil sie den Wert ihres eigenen Lebens aufgeben müssen.

Die Kernszene, die Folter und Vergewaltigung eines jungen Dorfmädchens, ist schon im Roman kaum auszuhalten. Wie schwer fiel es Ihnen, das zu schreiben – und wie inszeniert man so etwas?

Haratischwili Man nähert sich dem. Ich habe das nicht in einem Rutsch geschrieben. Man schreibt, dann filtert man wieder. Beim Recherchieren habe ich zwischendurch schon gedacht: Warum mache ich das? Einerseits muss man zulassen, dass das etwas mit einem macht, andererseits muss man immer wieder abschalten. Und offenbar gelingt mir das. Ich stehe dann auf, koche Essen, kümmere mich um mein Kind. Sonst wird man ja wahnsinnig.

Steckel Da wird das Theater schon an seine Grenzen geführt. Und wir haben uns gefragt, ob man so eine Szene zeigen kann.

Das stand zur Debatte?

Steckel Ja. Dadurch, dass diese Szene so plastisch ist und so nah dran – auch an unserer Gegenwart – ist es etwas anderes als ein Königsmord bei Shakespeare oder so. Ich denke, es ist eine Formfrage.

Warum ist diese Frage auf dem Theater offenbar existenzieller als zum Beispiel beim Film?

Steckel Ja, das ist spannend. Beim Film kann man sich vielleicht mehr abgrenzen, da ist man schon abgestumpfter. Im Theater läuft unterschwellig mehr mit. Ein anderer Vibe, der zwischen Bühne und Publikum abgeht. Zwischen echten Menschen.

Theater hat eine andere Art der Unmittelbarkeit.

Steckel Ja. Trotzdem ist ja allen klar, dass da bei einer Schwangeren ein Luftballon unterm Kleid ist, dass wir hier nur spielen. Wenn wir das vergessen, dann sind wir im „schönen Reich des Spiels und des Scheins“, wie Hölderlin sagt, und da ist alles möglich und alles Denkbare wahr.

Ist diese Szene die größte Herausforderung der Inszenierung?

Steckel Nein.

Sondern?

Steckel Die größte Herausforderung war es, diesem Roman gerecht zu
werden.

"Die Katze und der General" – Buch und Stück

Der Roman „Die Katze und der General“ von Nino Haratischwili (FVA, 764 S., 30 Euro) thematisiert Rache, Sühne und Täterschaft am Beispiel des ersten Tschetschenien-Kriegs. Die „Katze“ ist eine Schauspielerin, die einem toten Mädchen ähnelt, der „General“ ein russischer Oligarch, der mit seiner Schuld kämpft. Am Thalia Theater (Alstertor) feiert Jette Steckels Bearbeitung u. a. mit Lisa Hagmeister und Jirka Zett Premiere am 31.8. (19 Uhr), Karten unter T. 32 81 44 44.