Hamburg. An diesem Sonnabend wird das MS Artville eröffnet. Die Veranstalter rechnen mit insgesamt bis zu 60.000 Besuchern.
Etwas versteckt am Ende des Reiherstieg Hauptdeiches in Wilhelmsburg liegt an der Alten Schleuse das MS-Artville-Gelände. In einem zur Kunst-Schaltzentrale umfunktionierten Industriegebäude geht es gerade recht geschäftig zu. Alte Möbel stehen neben Paletten, Kaffeebecher türmen sich. Rudolf Klöckner strahlt dennoch Ruhe aus. Der Kurator des MS Artville Festivals, das an diesem Sonnabend mit einem Richtfest startet, ist zuversichtlich, dass all das Bauen, Schrauben, Hämmern und Malen hier rechtzeitig fertig wird. Zur Motivation steckt er Bagger- und Gabelstaplerfahrern schnell noch ein paar Schokoriegel zu. Ab Eröffnung werden hier rund 10.000 Besucher erwartet, zählt man die Besucher des Dockville Festivals hinzu, für die noch einmal extra geöffnet wird, dürften es sogar 60.000 werden.
Bereits zum vierten Mal leitet Klöckner das MS Artville, sozusagen den künstlerischen Arm des großen Festivalsommers, zu dem auch das Elektronik-Festival Vogelball, das Beatkultur-Festival Spektrum und der Poetry-Slam-Abend Slamville zählen. Bis zum 10. August werden unter dem Motto „Wie wollen wir morgen leben?“ 21 internationale und nationale (darunter vier Hamburger) Künstlerinnen und Künstler ihre Skulpturen, Installationen, Malereien und Performances in der Open-Air-Galerie zeigen. Unter ihnen sind Barbara,
Dave The Chimp, Mentalgassi und Marlene Hausegger. Ein Teil der Werke wird aus den Vorjahren in die aktuelle Schau übernommen.
Täglich wechselndes Programm des Festivals
Interessierte erwartet ein täglich wechselndes Programm mit Kunstspaziergängen und Workshops, ein Symposium führt in „The Art Of Protest“ (21.7.) ein. Klöckner kennt und beobachtet viele der Künstler seit Längerem als Betreiber der Urbanshit-Galerie am Fischmarkt und Autor des gleichnamigen renommierten Webzines rund um Urban Art, Street Culture und Kunst.
Das Zusammenleben im Bereich zwischen Natur und Stadtraum, es hat auf dem einladenden Gelände, das an zahlreichen Holzbuden Kulinarisches bietet, viele Farben und Formen. Themen wie Umweltzerstörung und Probleme des Miteinanders finden hier ihren individuellen Ausdruck – und der muss nicht immer negativ und düster daherkommen.
Unter ihrer Atemschutzmaske mit Schirmmütze und Sonnenbrille ist Bona Berlin kaum zu erkennen. Die Künstlerin fertigt mehrere Sitzskulpturen aus Holz mit farbenfrohen Sprühlack-Gesichtern an. „Ich möchte anhand der zwar gleich aussehenden, aber doch im Detail unterschiedlichen Köpfe Vielfalt als etwas Positives darstellen“, sagt sie.
Gleich am Eingang schaufelt sich ein gigantischer bunter Plastik-Maulwurf aus der Erde. Gebaut hat ihn der portugiesische Künstler Bordalo II., bekannt für seine großen Tierskulpturen, die er der jeweils örtlichen Fauna angleicht. Den Maulwurf hat er aus allerlei Plastikmüll und Autoteilen von Wilhelmsburger Händlern auf eine Holzkonstruktion geschraubt. Als Arme dienen ausgemusterte Plastiktonnen der Stadtreinigung. „Die meisten von uns wissen, dass die Weltmeere mit Plastikmüll verschmutzt sind, aber auch die Böden sind stark belastet mit Mikroplastik“, erläutert Klöckner. Die zunehmende Trockenheit bringe die Maulwürfe verstärkt an die Oberfläche. Deshalb diese Skulptur.
Werke wirken lange nach
Im hinteren Bereich bemalt der französische Künstler Arkane gerade eine Containerwand und kämpft mit der welligen Oberfläche. Das Bild zeigt zwei Menschen in vertrauter Position. Es ist einem historischen Foto nachempfunden, das Ilse Peters 1941 von Traute Lafrenz und Hans Scholl anfertigte. Die Hamburger Lichtwark-Schülerin war Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ und mit Scholl befreundet. Seit Langem lebt die heute 100-Jährige in den USA. Arkane hat die Szene für seine Vorlage von einem jungen Paar nachstellen lassen. Mit einem an einer langen Teleskopstange befestigten Pinsel trägt er Grau- und Braun-Schattierungen auf, die er zuvor selbst gemischt hat. „Ich arbeite normalerweise noch großformatiger“, sagt er. Die Arbeit erzählt sehr bewegend von Freundschaft und Widerstand. Es ist nicht das einzige Werk auf dem Gelände, das lange nachwirkt.
Direkt hinter dem Container liegt ein neu hinzugekommener Kunstgarten. Hier campieren später vier Tage lang die Dockville-Besucher. Jetzt hingegen ist er Teil des MS Artville und noch wild verwachsen. Man muss deshalb recht genau hinschauen, um auf einem Stapel aus Baumstämmen die Bilder des österreichisch-französischen Künstlerduos Jana JS zu erkennen. Die zwei gemalten urbanen Mädchen fügen sich erstaunlich harmonisch an das Holz, Natur und Stadtmenschen finden zusammen. Gleich nebenan zeigt die Gruppe Levalet versteckt unter einem Baum ein paar Geschäftsleute, die sich mit Bausteinen selbst einmauern. Symbol für das Verschwinden letzter, schützenswerter Naturflächen.
Konzeptionell sehr durchdacht
Den studierten Stadtplaner Klöckner fasziniert die Kunst im öffentlichen Raum auf diesem Gelände an der Grenze zum Hafengebiet ganz besonders. „Mich interessiert das Verhältnis von dem, was in einer Stadt geplant wird, und Dingen, die man nicht vorhersehen kann. Die genau dazwischen passieren. Kunstströmungen, die sich Orte und Flächen selbst aneignen“, sagt er.
Das diesjährige MS Artville kommt konzeptionell sehr durchdacht und mit starker politischer Haltung daher. Das Morgen, es erscheint häufig als düstere Vision, aber es gibt auch Grund zur Hoffnung. Jetzt ist es an den Besuchern, die Zwischenräume von Stadt und Natur zu erkunden.
MS Artville: Wie wollen wir morgen leben? 20.7. bis 10.8., Richtfest 20.7., 14 Uhr, 5 Euro, Kunstgucken So, Di, Mi jew. 14 bis 22 Uhr, Eintritt frei, Reiherstieg Hauptdeich/Alte Schleuse 23, Programm unter msartville.de