Hamburg. Intendantenwechsel beim NDR – Hamburgs früherer Bürgermeister Beust mahnt: „Die Zeit drängt für den Sender“.
Der NDR-Rundfunkrat bestimmt am diesem Freitag einen neuen Intendanten. Einziger Kandidat für die Nachfolge des scheidenden Intendanten Lutz Marmor ist der amtierende Hörfunkdirektor Joachim Knuth. Das Abendblatt sprach mit dem früheren Hamburger Bürgermeister Ole von Beust (CDU) über die anstehenden Herausforderungen für den Sender. Von Beust fordert eine radikale Modernisierung.
Herr von Beust, was verbindet Sie mit dem NDR?
Ole von Beust: Emotional sehr viel. Das fing in meiner Jugend an, als ich regelmäßig das „Studio für junge Hörer“ auf NDR 2 hörte. Später saß ich für die CDU im Rundfunkrat des Senders. Als Bürgermeister war ich auch für die Medienpolitik des Senats verantwortlich. Und heute höre ich im Autoradio noch immer gern NDR 2. Soweit zum Emotionalen. Verstandesmäßig treibt mich die Sorge um, ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk die nächsten 20 Jahre überleben kann.
Kann er das?
Ole von Beust: Wenn er sich nicht ändert, nicht. Den Öffentlich-Rechtlichen laufen die Zuschauer und Zuhörer bis in die mittlere Generation davon. Diese nutzen stattdessen Streamingdienste, die es ihnen ermöglichen, sich genau das anzugucken und anzuhören, was sie wollen – und zwar ohne Nachrichten und ohne andere redaktionelle Beiträge.
Was können die Öffentlich-Rechtlichen dagegen tun?
Ole von Beust: Sie müssen diesen Befund zunächst einmal zur Kenntnis nehmen. Das ist keineswegs selbstverständlich. Viele Funktionsträger der Öffentlich-Rechtlichen vermitteln den Eindruck, sie lebten noch in der Welt von vor 20 Jahren. Sie denken, alles sei gut, und kümmern sich lieber um den Parteien-Proporz und die Ausgewogenheit zwischen den regionalen Landesfunkhäusern. Die große Herausforderung ist aber eine ganz andere: Wie kann ich als öffentlich-rechtliche Anstalt im digitalen Zeitalter ein hochqualitatives Informations- und Unterhaltungsangebot bereitstellen, das alle annehmen?
Sind die Verantwortlichen der Öffentlich-Rechtlichen wirklich so gestrig?
Ole von Beust: Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Der NDR ist dabei, die Produktion seiner Nachrichtenangebote auf dem Gelände in Hamburg-Lokstedt an einem Standort zu konzentrieren. Eine sinnvolle Maßnahme, aber es gibt eine Ausnahme: „NDR Aktuell“, die große Nachrichtensendung des NDR-Fernsehens, wird nach wie vor in Hannover produziert. Das kommt aus einer Zeit, in der es darum ging, die Sendestandorte nach Proporz aufzuteilen.
Wer ist bei einem Sender wie dem NDR gefordert, das Ruder herumzureißen? Der Intendant? Die Politik? Oder die Gremien?
Ole von Beust: In erster Linie der Intendant. Die Politik überschätzt nach wie vor die Akzeptanz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Bevölkerung. Dass die Zuschauer- und Zuhörerzahlen bei den Unter-40-Jährigen drastisch zurückgehen, wird von Politikern kaum wahrgenommen, für die ein Auftritt bei „Anne Will“ das Maß aller Dinge ist. Und die Mitglieder von Rundfunkrat und Verwaltungsrat sind nach kürzester Zeit Bestandteil des Systems. Das erschwert deren Kontrollfunktion.
Müssten sich dann nicht die Kontrollgremien ändern?
Ole von Beust: Die Gremien setzen sich nach einem Gesamtproporz zusammen, der die Gesellschaft widerspiegeln soll. Heute sollte es weniger um Proporz gehen als um die Frage, wie kann ich den öffentlich-rechtlichen Rundfunk erhalten. Denn wenn keiner den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mehr hört und sieht, entfällt die Grundlage für ihn, Beiträge zu erheben. Und die Zukunft des Qualitätsjournalismus – das gilt übrigens auch für Print – ist gefährdet, wenn es im Netz überwiegend unregulierte Medien gibt, die tun und lassen können, was sie wollen.
Was tun? Braucht es einen neuen NDR-Staatsvertrag?
Ole von Beust: Das dauert viel zu lange. Bezogen auf den NDR kann ein neuer Intendant – auch über die ARD-Intendantentagungen – Neues anstoßen.
Was sollte der neue NDR-Intendant Joachim Knuth, der voraussichtlich an diesem Freitag gewählt wird, als Erstes tun?
Ole von Beust: Ich kenne Joachim Knuth schon lange und schätze ihn sehr. Wichtig wäre es, dafür zu sorgen, dass die Attraktivität der Öffentlich-Rechtlichen ansatzweise so hoch ist wie die von Streaming-Angeboten, die immer mehr genutzt werden. Die Anstalten müssen ihre Ressourcen besser nutzen. Die Trennung der Bereiche Hörfunk und Fernsehen …
… die es beim NDR noch gibt …
Ole von Beust: … ist im digitalen Zeitalter ein Anachronismus. Die lokale Berichterstattung muss erhalten und ausgebaut werden. Aber es gibt keine Notwendigkeit, Produktionsstätten im gesamten Sendegebiet vorzuhalten. Dank der Digitalisierung kann ein gut ausgebildeter Journalist seine Beiträge selber schneiden und mischen. Die Öffentlich-Rechtlichen müssen ihre eigenen Streaming-Angebote deutlich ausbauen. Und der Proporz muss auch bei der fiktionalen Produktion verschwinden. „Rote Rosen“ wird nur deshalb in Lüneburg produziert, weil der NDR Niedersachsen etwas Gutes tun wollte. Zugleich waren beim Start der Serie bei der NDR-Tochter Studio Hamburg, die „Rote Rosen“ produziert, auf dem Studiogelände in Tonndorf Kapazitäten frei.
Der NDR hat also noch ordentliche Einsparpotenziale.
Ole von Beust: Mit Sicherheit. Er wird sie heben müssen, weil sonst auf Dauer die Höhe der Beiträge nicht zu rechtfertigen sind. Ich kann nur so viel Geld verlangen, wie zur Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags unbedingt erforderlich ist.
Wie schnell muss ein Sender wie der NDR handeln? Wann ist der Punkt erreicht, an dem alles zu spät ist?
Ole von Beust: Der Handlungsdruck ist sehr groß, weil schon jetzt dem Sender die Zuschauer und Zuhörer wegbrechen. Ich sehe das ja an meinem eigenen Nutzungsverhalten. Ich bin 64, schaue noch „Tagesschau“, nutze aber ansonsten Streaming-Angebote wie Netflix. Der Druck auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wird von Jahr zu Jahr größer. Die Zeit drängt. Aber ich glaube auch, dass Joachim Knuth dieses Thema angehen wird.
Wird der NDR einen solchen Prozess allein stemmen können? Oder braucht er einen Moderator, der von außen kommt?
Ole von Beust: Wenn Besitzstände abgebaut werden müssen, ist Moderation, die von außen kommt, immer gut. Insbesondere wenn Sie als neuer Intendant etwas vorschlagen, bekommen Sie von den Besitzstandswahrern sofort Gegenwind.
Stünden Sie für eine solche Moderation zur Verfügung?
Ole von Beust: Das ist keine Halbtagsaufgabe. Ich würde da auch einen Jüngeren nehmen. Es müsste jemand sein, der eine kaufmännische und eine Medien-Expertise hat. Ich bin Jurist und habe in meiner Beratungsfirma genug zu tun.
Sie erwähnten vorhin Print im Zusammenhang mit dem Qualitätsjournalismus. Das klang so, als glaubten Sie, die Verlage sähen sich mit denselben Problemen konfrontiert wie die Öffentlich-Rechtlichen.
Ole von Beust: Da gibt es Ähnlichkeiten. Angesichts rückläufiger Auflagen besteht die Gefahr, dass es in der Fläche irgendwann keine Tageszeitungen mehr gibt. Wir sollten uns folglich überlegen, ob analog zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Gründung von staatsfernen Stiftungen – womöglich auch mit Mitteln des Rundfunkbeitrags – erforderlich ist, die sich der Förderung des Qualitätsjournalismus verschreiben. Das muss nicht zwangsläufig Print-, das kann auch Onlinejournalismus sein. Die Gefahr ist, dass – wenn eines Tages die Tageszeitungen verschwinden und mit ihnen ihre Online-Auftritte – die Bevölkerung sich nicht mehr seriös über kommunal- und landespolitische Themen informieren kann. Das tut auch der demokratischen Meinungsbildung nicht gut.