Hamburg. Mit der „Orestie“, einem antiken Maskenspiel, eröffnete das Burgtheater das diesjährige Hamburger Theaterfestival.
Unheilvoll wabert der Nebel. Schiebt sich in den Raum, als wäre er ein Verderben witterndes Tier. Die nur sanft ansteigende Bühne (Matthias Koch) teilt er sich mit einem ähnlich bedrohlichen, ähnlich düsteren Wesen: einer Masse Mensch oder vielmehr: einem Pulk Punk-Zombies mit sieben Köpfen. Fahlgelbe Haarsträhnen, die Gesichter fett weiß geschminkt, die Lippen blutrot. Sieben Burgschauspielerinnen in Ganzkörperanzügen (Kostüme: Victoria Behr), die die Farbe schmutzigweißer Asche haben, und die – außer Maria Happel in ihrer charakteristischen Physiognomie – zunächst als Individuen gar nicht auszumachen sind.
Das ist als Bild stark. Antú Romero Nunes, in Hamburg sonst Hausregisseur am Thalia Theater, feiert zur Eröffnung des Hamburger Theaterfestivals am Schauspielhaus mit seiner Wiener Inszenierung der „Orestie“ vor allem Form und Sprache. Seine Chorarbeit des Textes von Aischylos (in der Übersetzung von Peter Stein) ist enorm präzise. Die Schauspielerinnen, die als ein einziger Erinnyen-Körper zu atmen scheinen, zelebrieren regelrecht die Deklamation dieser grausamen Tragödie.
Hatte der Regisseur Ersan Mondtag in seiner Thalia-Inszenierung desselben antiken Stoffes 2017 nicht allein auf Erhabenheit und Tragik gesetzt, sondern unverhohlen auch mit Komik und Klamauk gespielt (sein ebenfalls kalkig getünchtes Ensemble trug zum Beispiel Schnurrhaare), nehmen Antú Romero Nunes und seine sieben weiblichen Rachegeister ihre Aufgabe hier nun umso ernster. Das ist in dieser Konsequenz und dieser Sorgfalt schon beeindruckend. Es ist aber – zumal im ersten, dem vorrangig chorischen Teil des Abends – auch, nun ja, ein wenig einlullend. Eine perfekt ausgeführte Stilübung (Chorleitung: Bernd Freytag), die auf ihre Art brave Vorführung eines unsterblichen Dramas. Der kann man als solcher gar nichts vorwerfen, als Zuschauer lässt sie einen aber zunächst dennoch (vielleicht sogar: deshalb) seltsam unberührt.
Ein blutrünstiges frühes Game of Thrones
Obwohl das fürchterliche Familiendrama, dieser Kreislauf aus Macht und Eifersucht und Gewalt und Rache, als Stoff natürlich von Beginn an überwältigend ist, denn schon die Vorgeschichte, von der ausführlich berichtet wird, hat es in sich. Ein blutrünstiges, schonungsloses, frühes Game of Thrones ist das alles, in dem eine untreue Ehefrau, Klytaimnestra, ihren ebenso untreuen Mann Agamemnon ermordet, weil der für eine möglichst günstige Segelbrise die gemeinsame Tochter Iphigenie geschlachtet hat. Was ohne Frage kein sehr feiner Zug von ihm ist. Um den toten Vater zu rächen, meuchelt anschließend Orestes, ihr Sohn und außerdem Bruder der eingangs Geopferten, die eigene Mutter, also Klytaimnestra.
Caroline Peters spielt diese zu allem entschlossene Frau, die ihren Mann, den Kriegsheimkehrer, anfangs unterwürfig willkommen heißt: „Was ist süßer für eine Frau, als den Tag zu erleben, an dem sie dem Mann das Tor öffnen darf, dem Mann, den ein Gott aus dem Krieg heil nach Hause führt.“ Leises Gekicher übrigens im ansonsten sehr konzentrierten Hamburger Publikum an dieser Stelle.
Wirklich stark, auch origineller wird der Abend immer dann, wenn die Frauen sich aus dem Furienhaufen lösen dürfen, wenn die Ungeheuerlichkeit der Vorgänge und die emotionale Wucht, die dann möglich wird, ihren Sog auch im hohen Fritz-Kortner-Ton entfalten.
Eine Sippe im totalen Blutrausch
Schwarzes, flüssiges Pech klebt an Caroline Peters; ihre kehlige, durchdringende Stimme, mit der sie den Gattenaxtmord bejubelt und die Worte dabei geradezu ausspeit, lässt jeden Zeugen erschauern. Ja, es ist wahrlich ein „zerschundenes Haus“, eine Sippe im totalen Blutrausch. Der Moment des Muttermords durch Aenne Schwarz als Orestes, die ihrer Erzeugerin die Brust – oder ist es das Herz? – herausbeißt, und seine/ihre Beichte danach ist geradezu physisch ergreifend. Aber auch die Happel als Agamemnon mit vorgeschnalltem Gummilabberkörper, bei dem an der Stelle eines männlichen Geschlechtsorgans bloß eine weiche Beule baumelt, Andrea Wenzl als Kassandra, Sarah Viktoria Frick als Elektra oder Irina Sulaver, die als rechtsprechende Athene den Kreislauf der hemmungslosen Gewalt schließlich (vorerst) durchbricht, spielen berückend. Diese Frauen glühen durch den dicken Gesichtskleister hindurch. Der einsetzende Regen aus dem Schnürboden und die emotionsverstärkenden, teils sphärischen Klänge (Musik: Thomas Kürstner und Sebastian Vogel) bleiben dagegen äußerliche Effekte.
Zum Abschluss wird das Wiener Burgtheater erneut zum Hamburger Theaterfestival erwartet, mit einem weiteren, ebenfalls hochkarätig besetzten und ebenso blutigen Familiendrama: Von Nunes’ strengem Antikenspiel könnte Simon Stones zeitgemäße Überschreibung des „Medea“-Mythos’ jedoch ästhetisch kaum weiter entfernt sein.