Hamburg. 1976 kam Hark Bohms Klassiker in die Kinos – Sonntag zeigten 15 Häuser ihn erneut. Dazu kehrte der Regisseur an die Drehorte zurück.

Die Gruppe, die sich auf der Brücke des S-Bahnhofs Wilhelmsburg versammelt hat, wird langsam größer. Manche haben ihr Fahrrad dabei, andere sind mit der Bahn oder dem Auto angereist. Paare, Freunde, Fremde. Es herrscht eine gelöste Stimmung. Und dann ist er plötzlich mitten unter ihnen. Der Mann, dessentwegen sie alle an diesem Sonntagvormittag auf der Elbinsel zusammengekommen sind: Regisseur Hark Bohm.

„So viele Leute, man, man. Ich weiß überhaupt nicht, was ich erzählen soll!“, sagt er mit einem breiten Grinsen im Gesicht und sorgt damit direkt für Gelächter, denn dass dieser Mann, um den sich an diesem Tag alles dreht, sehr wohl einiges zu erzählen hat, stellt er postwendend unter Beweis.

Verfrühtes Geburtstagsgeschenk für Hark Bohm

„Eine Stadt sieht einen Film“, heißt das Gemeinschaftsprojekt der Hamburger Arthouse- und Programmkinos, das am Sonntag Hark Bohms Klassiker „Nordsee ist Mordsee“ aus dem Jahr 1976 in digitalisierter und restaurierter Fassung in 15 Hamburger Kinos auf die Leinwand brachte. Die in diesem Jahr zum vierten Mal realisierte Aktion war als verfrühtes Geburtstagsgeschenk für den Filmemacher gedacht, der am 18. Mai 80 Jahre alt wird.

Für Bohm bedeutete das nicht nur ein Wiedersehen mit Darstellern und Mitwirkenden des Filmteams von damals, sondern auch eine kleine Reise in die Vergangenheit, denn zum Auftakt ging es auf Drehortführung durch Wilhelmsburg. „Für uns, die nördlich der Elbe wohnten, gab es Wilhelmsburg eigentlich gar nicht. Das hat den Reiz ausgemacht“, erzählt Bohm zu Beginn der Tour und lässt seinen Blick schweifen. Seit den Dreharbeiten vor mehr als 40 Jahren hat sich hier so einiges verändert.

„Nordsee ist Mordsee“ handelt von zwei Teenagern, die in einer Wilhelmsburger Hochhaussiedlung aufwachsen und beide auf ihre Art zu kämpfen haben. Der vorlaute Uwe ist Anführer einer Jugendbande, knackt Automaten und verprügelt Ausländer. Zu Hause wartet ein trinkender und prügelnder Vater auf ihn. Dschingis, der wegen seines asiatischen Aussehens gehänselt wird, wird ebenfalls Opfer von Uwes Attacken. Doch nachdem Uwes Bande Dschingis selbstgebautes Floß zerstört hat, wehrt er sich. So werden aus den anfänglichen Gegenspielern Freunde, die sich entschließen, dem Elend gemeinsam zu entfliehen und sich zunächst auf dem reparierten Floß, später auf einem geklauten Segelboot in Richtung Elbe aufmachen.

Wie Wilhelmsburg sich verändert hat

Ein Charakteristikum des Films ist der breite Hamburger Slang. „Wilhelmsburger Slang“, nennt Holger Spannbauer das. Er kann es beurteilen, denn er ist in Wilhelmsburg aufgewachsen, kennt das Milieu, die Sprache und das Gefühl aus der damaligen Zeit. „Es ist ein toller Film, sehr authentisch“, sagt er. Zur Drehortführung ist der 57-Jährige zusammen mit vier Jugendfreunden, die ebenfalls in den Hochaussiedlungen südlich der Elbe groß geworden sind, gekommen. Erinnerungen werden wach.

Die erste Station des Spaziergangs ist der Ort, an dem einst die Kneipenszenen gedreht wurden. Die Kneipe hat die Zeit jedoch genauso wenig überdauert, wie das Brachland, das einem Einkaufszentrum gewichen ist. „Ich sehe nichts“, sagt Bohm mit seiner kräftigen Stimme während er sich auf einer Holzkonstruktion erhöht stehend umblickt. „Ohne Torsten wüsste ich nicht, wo ich bin.“

Torsten Stegmann, selbst Independent-Regisseur, kennt die Orte von einst und geht mit ausgedruckten Setfotos voran. Bohm resümiert über das Drehen mit den Kindern vor Ort und erzählt von seinen Adoptivsöhnen Dschingis und Uwe, die in „Nordsee ist Mordsee“ die Hauptrollen spielen und die Idee zum Film lieferten. Soziale Dramen, Rassismus, Geschlechterklischees. Der Film setzt sich mit einigen gesellschaftlichen Problemen auseinander.

„Filmemachen Anfang der 60er und 70er Jahre war sehr politisch“, sagt Bohm. „Ich wollte von einer Welt erzählen, die in meinem Bewusstsein ist, auch wenn diese in der öffentlichen Wahrnehmung nicht stattfand.“ Diese Herangehensweise hat auch Heike Flemming, die wie Holger Spannbauer in Wilhelmsburg aufgewachsen ist, besonders beeindruckt. „Durch den Film hat die Welt Notiz davon genommen, dass es so was wie Wilhelmsburg gibt.“

Hark Bohm ist sichtlich ergriffen

„Es ist berührend, mit welchem freundschaftlichen Interesse die Leute uns begleiten, weil sie die Strecke verfolgen wollen, die sie aus ihrer Kindheit kennen“, sagt Bohm während des Spaziergangs sichtlich ergriffen. Vorbei an den Schauplätzen einiger Schlüsselszenen geht es zwischen den Hochhaussiedlungen hindurch bis zur Schleuse am Wasserturm, wo einst das Floß der Jungs in den Kanal gelassen wurde.

„Das sieht alles so anders aus“, staunt der Regisseur immer wieder und gibt eine Anekdote nach der nächsten zum Besten. Nach einem Abschlussfoto geht es für Hark Bohm dann weiter. Er hat schließlich noch ein straffes Programm vor sich – bei zehn von 15 Vorführungen ist er als Gast vor Ort. Die Teilnehmer der Führung lässt er begeistert zurück. Für die meisten geht es ebenfalls direkt weiter ins Kino.

„Ich habe den Film vor 30 Jahren das letzte Mal gesehen. Wenn man die Schauplätze jetzt wiedererkennt, ist das natürlich besonders cool“, sagt Gert Lovisa, der zusammen mit Jan Eggers extra aus Kiel angereist ist. Auch von der Art des Regisseurs sind die Freunde begeistert. „Bohm ist unprätentiös und angenehm nahbar“, sagt Eggers. Unprätentiös ist Bohm in der Tat. Seine größte Angst sei es gewesen, vor einem leeren Kino zu stehen, gibt er bei seiner zweiten Station im Savoy Filmtheater am Steindamm zu.

Völlig unbegründet, wie sich nicht zuletzt beim Blick in den vollen Saal zeigt. Zusammen mit Adoptivsohn und Hauptdarsteller Dschingis Bowakow und Schauspielerin Herma Koehn stimmt er das Publikum mit sichtlicher Freude auf den Film ein, den einige der Zuschauer an diesem Nachmittag zum ersten Mal sehen. Bevor er sich wieder auf den Weg macht, winkt er noch einmal, verschmitzt lächelnd. Auf ihn wartet das nächste Kino. Auf das Publikum eine Reise ins alte Hamburg.