Hamburg. Gejagt, bedroht, zurückgekehrt: Das MARKK begibt sich auf kulturgeschichtliche Spurensuche des wilden und uns doch so nahen Tieres.
„Wehe, wenn der Wolf kommt“, „Erster Wolfriss in Hamburg“, „Der Wolfsflüsterer“ – kein Tier sorgte im vergangenen Jahr derart für Schlagzeilen wie der Wolf. Galt das wilde Tier seit 150 Jahren nahezu als ausgerottet, kehrt es nun wieder zurück. Und reißt nicht nur vereinzelt Weidetiere, sondern auch längst verheilt geglaubte Wunden auf: Schäfer wie Tierschützer schlagen Alarm, in Waldkindergärten geht die Angst vor menschenfressenden Wölfen um (man denke nur an Rotkäppchen!),
Mediale Aufmerksamkeit? Hysterie trifft es besser. Denn wir sprechen von gerade mal 500 Tieren, die 2018 gezählt wurden. Eine Begegnung mit der scheuen Spezies ist recht unwahrscheinlich. Und doch wird seine Annäherung an den menschlichen Lebensraum Stadt mit Argwohn beobachtet. Neuerdings rennt der Wolf sogar direkt ins aller heiligstes Kulturareal.
Projektionsfläche für menschliche Ängste
Im Café des Museums am Rothenbaum, Kulturen und Künste der Welt (MARKK) hat der finnische Streetart-Künstler Jussi TwoSeven ein laufendes Exemplar großflächig an eine Wand gesprüht. Das Graffito „All City Movement Frame 6“ gehört zu einer Serie, mit der er auch im öffentlichen Raum seiner Heimat zu einem besonnenen Umgang mit Wildtieren anregen will (im Gegensatz zu Deutschland, wo Wölfe unter Schutz stehen, werden sie in Finnland zur Begrenzung des Bestands regelmäßig zur Jagd freigegeben).
Vom gefährlichen Raubtier übers Rudeltier mit Familiensinn bis zum Charakter in Sagen und Märchen – kulturgeschichtlich diente der Wolf seit jeher als Projektionsfläche für menschliche Ängste und Sehnsüchte gleichermaßen. Die aktuelle Debatte und gesellschaftliche Polarisierung greift das MARKK nun in einer Sonderausstellung auf.
Popkulturelle Spurensuche
Ausgehend von dem Forschungsprojekt „Wölfe: Wissen und Praxis“ der Universität Zürich und in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kulturanthropologie der Universität Hamburg ist „Von Menschen und Wölfen“ entstanden. „Wir starteten mit einer Idee, und daraus entwickelte sich dieses spannende Projekt, das in alle Disziplinen hineinreicht und uns viele Denkanstöße liefert“, sagt Direktorin Barbara Plankensteiner.
Die Kuratoren Johanna Wild und Bernd Schmelz begaben sich auf eine kunsthistorische und popkulturelle Spurensuche in der hauseigenen Europa-Sammlung. Und siehe da: Plötzlich erscheinen ein Wolfspräparat aus dem Wildpark Eekholt, ein portugiesisches Hundehalsband zum Schutz vor Wölfen und eine Wildtierkamera in ganz neuem Licht. Daneben sind Gemälde, Skulpturen, Fotografien sowie Plakate zu sehen.
Gejagt wurde mit Schlagfallen und Giftködern
Exponate kommen aus fast allen Hamburger Museen sowie aus ethnografischen Häusern in ganz Europa. Aus Skandinavien hatten sich die Kuratoren mehr Ausleihen erhofft; „doch als sie von unserem Vorhaben erfuhren, kamen viele Kollegen auch auf den Geschmack, über Wölfe auszustellen“, so Plankensteiner. In Deutschland zeigt parallel zum MARKK auch das Wallraf-Richartz-Museum in Köln den „Wolf zwischen Mythos und Märchen“.
Die Hamburger Schau ist in vier thematische Blöcke unterteilt: Das Kapitel „Bereicherung und Bedrohung“ untersucht, wie sich die Mensch-Tier-Beziehung in den vergangenen 150 Jahren verändert hat. Wolfsgruben, Schlagfallen, Wolfsangeln und Giftköder zeigen, wie in Mitteleuropa bis Anfang des 20. Jahrhunderts systematisch gejagt und getötet wurde. Heute versucht man mit Hilfe von Wolfsmonitoring und -management so viel Wissen und Kontrolle wie möglich über die Spezies zu bekommen.
Wolf im Schafspelz oder Schaf im Wolfspelz?
In „Verwandlung und Grenzgänge“ verschwimmt die eindeutige Trennung zwischen Mensch und Tier: Je nach Weltanschauung versuchte man, sich „wölfische“ Eigenschaften wie Kraft, Mut oder Jagdgeschick anzueignen, indem man sich mit Fellen und Talismanen kleidete oder entsprechende Namen vergab (Wolfgang ist mit 286.996 aktuellen Nennungen der Favorit). Es wird von Wolfsmenschen und Werwölfen in Literatur und Horrorfilmen berichtet.
Corinna Korth ist mit ihrem Foto-Experiment „Einbürgerung“ (2000/2001) vertreten: Die Hamburger Künstlerin durchlief diese Prozedur, von der ärztlichen Durchsuchung bis zum Deutschkurs, bekleidet mit einer Wolfsmaske. Am Ende absolvierte sie gar eine Ausbildung zur Tierwirtin mit Schwerpunkt Schafhaltung. Dazu passt das Verwandlungskunststück „Wolf im Schafspelz – Schaf im Wolfspelz“ von Timm Ulrichs, das mit den jeweiligen Assoziationen spielt.
Sein Auftreten als „böser Wolf“ in Fabeln und Märchen machen das Wesen zu einem geeigneten Symbol verschiedener politischer Bewegungen, wie das Kapitel „Geschichten, Bilder, Ideologien“ erzählt. Rainer Opolka hat mit seinen Bronzeskulpturen „Die Rückkehr der Wölfe“ (2016) dem Wiedererstarken rechter Kräfte ein Gegendenkmal gesetzt. In der Ausstellung sind die beeindruckenden Figuren „NSU Mann“, „Attack“ und „Anführer“ ausgestellt.
Medial ausgeschlachtet
Wie der Wolf vom Menschen vermarktet und für seinen Profit medial ausgeschlachtet wird, zeigt am Ende der thematische Block „Wolfswaren“. Wie sich das mit der aktuellen und laut Carsten Brosda „sehr emotional geführten Debatte“ über die Beziehung zwischen Mensch und Wolf verträgt, auch darüber ist den Ausstellungsmachern ein sehr kluges und ästhetisches Lehrstück gelungen, das geschichtlich forscht, Fakten liefert und Klischees hinterfragt.