Hamburg. Sein 250. Geburtstag wird erst 2020 gefeiert. Doch jeder will zuerst gratulieren – Musikjournalistin Büning mit einem Buch.

Die 32 Klaviersonaten? „Heiliger Boden“, nicht nur für den Kritiker-Papst Joachim Kaiser, der ein 660 Seiten schweres Standardwerk für die Ewigkeit über sie hinterließ. Die Neunte Sinfonie? Längst „die deutsche Schicksalsmusik vom Dienst“, „obligate Staatsakt-Garnitur“ und wegen des Chor-Finales als Jahreswechsel-Pflichtstück in die Silvesterkonzerte-Dauerschleife hineinbetoniert.

Ludwig van Beethoven, Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert
Ludwig van Beethoven, Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert © picture alliance / imageBROKER | dpa Picture-Alliance / H.-D. Falkenstein

O Freunde, wieder und wieder diese Töne? An Klischees über sie herrscht jedenfalls kein Mangel. Und Ludwig van Beethoven (links) selbst, 1770 in Bonn geboren, in einer Epoche, die wilde Umbrüche erleben sollte? Da wird alles gern noch eine Nummer größer gehandelt: Autoritäten- und Adligen-Verächter mit chronischer Saulaune, auf kurze Affären mit höheren Töchtern und Klavierschülerinnen abonniert, Über-Komponist, Lichtgestalt. „Tondichter“ – die handwerklichere Berufsbezeichnung „Komponist“ verwandte er für sich bezeichnenderweise nicht – auf Goethe-Augenhöhe. Mythos. Mindestens.

Anders zu verstehen als viele glauben

Noch ist das garantiert ausufernde Beethoven-Jahr zur Feier des 250. Geburtstags erst am Horizont der Orchester, Konzerthäuser und Festivals zu erahnen (der Wagner-Wahn von 2013 ist verheilt, den Ex-Jubilar Mozart kann man wieder unbeeinträchtigt hören). Doch schon jetzt lässt sich sagen: Beethoven wird bis zum 31. Dezember 2020 präsentiert werden wie immer. Nur deutlich intensiver und womöglich sehr konventionell, weil es so schön einfach ist. Die Sinfonien und Klavierkonzerte sind weltweit gelernt, die Sonaten und Streichquartette – bis auf die späten – sind größtenteils trügerisch eingängig. Dabei sind sowohl er als auch seine Musik oft anders zu sehen und zu verstehen, als die meisten zu wissen glauben.

Genau hier und bereits jetzt kommt ein Buch ins Spiel mit diesen Konventionen, das prallvoll ist mit Korrekturen, Einordnungen und Zurechtrückungen. Geschrieben wurde es, als Überarbeitung einer Sendereihe für den RBB, von der ebenso renommierten wie meinungsstarken Musikjournalistin Eleonore Büning. Sie befasste sich bereits in ihrer Doktorarbeit mit der fundamental wichtigen Frage, wie Beethoven auf seinen sprichwörtlichen Sockel kam; dieser liebevoll-kritischen Betrachtung des Phänomens LvB bleibt sie hier treu. Die Kennerin würdigt, sie staunt, sie gewichtet und verwirft, aber sie vergöttert nicht pauschal und ohne Wenns und Abers. Stattdessen und wie nebenbei würzt sie den ­Rundgang durch Höhen und Tiefen des Werkkatalogs mit wissenswerten, überraschend unbekannten Details, der „Ritterballett“-Musik WoO 1 als leicht­gewichtige Vorgängerin der „Prometheus“-Ballettmusik beispielsweise. Noch so ein Aha-Fakt: Für die Uraufführung seiner Dritten Sinfonie 1804 in Wien hatte Beethoven gerade mal ein 28-Mann-Orchesterchen im Festsaal des Palais Lobkowitz, die Premiere der „Eroica“ dürften dort maximal 150 Menschen miterlebt haben. Völlig unvorstellbar für unsereins, wie diese revolutionäre, kompromisslose Musik damals auf jeden einzelnen gewirkt haben muss.

Inspiration aus dem Balkan?

Dass das Anfangsthema in der „Pastorale“ womöglich vom kroatischen Kinderlied „Sirvonja“ inspiriert wurde, das Beethoven bei Waldhütern vom Balkan im Wienerwald gehört haben könnte? Eine Quellenforschungs-Ergebnis, das so gar nicht ins Heiligenbild passte und entsprechend weit unten im Rezeptions-Lektüreregal abgeheftet wurde. Dass Beethoven garantiert vieles war und vieles konnte, aber für Stimmen zu komponieren gehörte eindeutig nicht zu seinen Stärken? Als überzeugenden Gegenbeweis führt Büning die Konzertarie „Ah! perfido“ an und ebenso die vielen gelungenen Lieder; Liszt wird nicht grundlos Dutzende für Klavier bearbeitet haben. Doch Liszts Schwiegersohn Richard Wagner musste Beethovens Können auf diesem Gebiet gründlich abwerten, um danach sich selbst als Visionär feiern zu können.

Außerdem gab es ja die Schwachstelle Oper, mit der Beethoven als Sinfoniker angeblich nicht klarkam. Aus „Leonore“ wurde unter größten Schmerzen „Fidelio“, „diese Oper erwirbt mir die Martirerkrone“, lamentierte Beethoven einmal. Ein Stück, das noch problematischer ist als sein Zangengeburt-Ruf? Kann man so nicht stehen lassen, insgesamt sind mehr als 50 Musiktheater-Anläufe dokumentiert – besonders interessant und unbekannt ist die unvollendete Antike-Oper „Vestas Feuer“. Desinteresse an diesem Format sähe anders aus.

Lektüre, die zum Hören anregt

Für so ziemlich jeden Aspekt aus Leben und Werk finden sich handlich kurze Kapitel, die unentwegt Lust darauf machen, das gerade Gelesene am jeweiligen Tonbeispiel zu überprüfen und überhaupt jetzt noch Beethoven zu hören, in aller Ruhe, bevor man ihn im Gratulationsgedröhne garantiert nicht mehr hören kann: Jugend und Einflüsse, Kräche mit Verlegern, die Inszenierung durch sich selbst und erst recht durch die ersten lobhudelnden Biografen. Vorbilder und Epigonen, die unter dem Schlagschatten des Giganten litten. Die Lebenstragödie der Taubheit, über die er 1802 in seinem „Heiligenstädter Testament“ schreibt (das Original befindet sich übrigens nicht in Wien, sondern in: Hamburg).

Gründlich analysiert und schlüssig enträtselt wird auch die Frage, wer die berühmte „Unsterbliche Geliebte“ gewesen sein könnte: Josephine von Stackelberg, verwitwete Deym, geborene Brunsvik. Mit ihr im Herzen schrieb Beethoven sein Lied „An die Hoffnung“ op. 36. Neun Monate nach einem Treffen mit Beethoven in Prag brachte Josephine eine Tochter zur Welt. Ihr Name: Minona, rückwärts gelesen „anonim“.

Das Genie wird nahbarer

Im Abschnitt über die leidige Debatte, welches Tempo der Komponist gemeint haben könnte und ob nicht nur jeder zweite Schlag des Metronoms zu zählen sei, darf ein klassisches Bonmot des Dirigenten Nikolaus Harnoncourt nicht fehlen: „Beethoven war taub, das stimmt. Aber er war nicht blöd!“ Ähnlich erhellend ist das Kapitel über die Versuche, Beethovens Stil in das Gedankenkorsett des erst später konstruierten Formschemas Sonatenhauptsatzform zu zwingen. Dass ein Thema im Finale der Ersten Sinfonie des Franzosen Étienne-Nicolas Méhul wie ein Zwilling des Klopfmotivs aus Beethovens Fünfter wirkt, die zeitgleich entstand: ein Zufall, wie ihn nur die Musikgeschichte schreibt. Sogar ein Nischenwerk wie die Kantate „Der glorreiche Augenblick“ für die Eröffnung des Wiener Kongresses findet Erwähnung. Sie beginnt sinnigerweise mit dem Chorsatz „Europa steht!“ und wäre damit ein geeigneter Nachrücker, falls das Finale der Neunten einmal nicht mehr Europahymne sein sollte.

Beethoven als Mensch und als Komponist – kann man das überhaupt klar trennen? – wird durch diese Lektüre nicht vom Sockel geholt, auf dem er schon zu Lebzeiten stand. Doch der Sockel wird hinterfragt und von allen Seiten einer kritischen Materialprüfung unterzogen. Das Genie bleibt widersprüchlich und genial, wird aber nahbarer. Und die Musik bleibt ein Rätsel, vor den Ohren der ganzen Welt.

Das Buch Eleonore Büning: „Sprechen wir über Beethoven. Ein Musikverführer“, Benevento, 352 Seiten, 24 Euro