Hamburg. Was man vom 22. Dezember bis zum 1. Januar konkret angehen könnte: Das Abendblatt hat einige Anregungen ...

Ein Traum für alle Werktätigen: Dank der ausgesprochen günstigen Lage der Feiertage, ist es in diesem Jahr möglich, mit dem Einsatz von zwei, maximal drei Urlaubstagen eine Strecke von insgesamt elf freien Tagen zu erreichen. Elf freie Tage! Was macht man damit? Man nimmt sich die ganz großen Kulturbrocken vor, die, für die sonst nie wirklich Zeit bleibt. Schwere Bücher, fette CD-Boxen, Gesamtwerke. Lange Theaterabende, noch längere Ausstellungsbesuche. Was man vom 22. Dezember bis zum 1. Januar konkret angehen könnte? Wir ­haben da mal einige Anregungen ...

JONI MITCHELL

Es sollte mehr Mitchellologen geben

Roberta Joan Anderson aus Fort Macleod, einem Kaff in der kanadischen Provinz Alberta. Eine unverwechselbare Stimme: in ihrer Jugend Hippie-Göttin mit Buttermilch-Sopran, im Alter klingt ihr Zartbitter-Alt nach schlecht verheilten Narben auf der Seele. Und dann diese sonderbar verrutschten Harmonien, die sie auf der Gitarre spielte. Kinderlähmung, überstanden, aber seitdem ging es nicht anders. Mit zwei Worten: Joni Mitchell. Niemand wäre als Wiedergeburt Schuberts eine geeignetere Kandidatin als diese Frau.

„Ihre Stimme fliegt über die unerhörten Akkorde wie eine Schwalbe vor dem Gewitter“, schrieb Judith Holofernes neulich in einer Gratulation. Vor einigen Wochen wurde Mitchell tatsächlich 75, vor einigen Wochen erschien die Doku „Both Sides Now“ auf DVD, mit Aufnahmen ihres legendären Auftritts beim Isle of Wight Festival 1970. Ein Jahr nach Woodstock, das hatte sie verpasst. Mit einem der gängigen Streaming-Abos gibt es jetzt keine Ausrede mehr. Sich so gründlich wie vorsichtig durch ihren Werkkatalog zu hören kann nur eine Abenteuerreise sein. Es gibt schon viel zu viele Dylanologen. In einer perfekteren Welt sollte es mehr Mitchellologen geben. (jomi)

KLUGE COMICS

Am Ende sind wir doch alle Charlie Brown

Von der „Peanuts“-Werkausgabe sind bisher 25 Bände erschienen. Leider klaffen da in meinem Regal noch einige Lücken, die Bücher kosten jeweils mehr als 30 Taler. Aber sie können helfen, denn sie sind das gezeichnete Gegengift gegen den grassierenden Irrsinn der Welt. Ihre Wirkungsgrundlagen sind Humor und Humanität. Zu Band 25 hat übrigens Barack Obama das Vorwort geschrieben. Kann man sich so etwas von seinem Amtsnachfolger mit dem dicken Filzstift vorstellen? Also bitte! Dann schon lieber die eher feinen Striche von Charles M. Schulz, der seine kleinen Alltagshelden 50 Jahre lang gezeichnet hat.

Der ewige Pechvogel Charlie Brown, sein verflixt origineller Hund Snoopy, dessen Freund, der gelbgefiederte Vogel Woodstock, die oft so schlecht gelaunte Lucy, ihr Bruder Linus, der bibelfeste Bonsai-Philosoph, Peppermint Patty, Schroeder – und all die anderen. Schulz hat da einen herrlichen Comic-Kosmos geschaffen, in dem man gut abtauchen kann, abtauchen muss. Gefragt, welchen der Charaktere er am liebsten mag, hat Steve Martino, US-Regisseur des „Peanuts“-Films, geantwortet: „Ich wäre so gern wie Linus, denn er ist so ein guter Freund. Aber ich fürchte, am Ende sind wir doch alle nur Charlie Browns.“ (vob)

STATT POPMUSIK

Diesmal wirklich: der legendäre Klassik-Kaiser

Bildungsbürgerliche Ambition war durchaus vorhanden im Elternhaus. Im Wohnzimmer standen Klassik-Schuber: Beethoven, Haydn, Mozart, Bach. Ich lernte früh etwas über deutschen Kulturadel. Aber nur vom Lesen der Begleittexte. Klassik wurde eher selten bei uns aufgelegt. Im Jugend-Orchester spielte ich Lloyd Webber und „Eye Of The Tiger“, bis ich in der Pubertät die Klarinette an den Nagel hängte. Seit frühester Jugend bin ich ein außerordentlich heftiger Musikhörer und meist dennoch erfolglos bemüht, mich von der Popmusik in andere Felder vorzuwagen. Vor mehr als zehn Jahren bestellte ich mir den sogenannten „Klavier-Kaiser“.

Die besten Pianisten, die schönsten Aufnahmen, zusammengestellt und kommentiert von dem legendären Kritiker Joachim Kaiser (1928–2017). Seitdem begleiten mich Horowitz, Rubinstein, Solomon, Kempff, Fischer, Barenboim, Brendel, Argerich, Gould usw.; sie haben in jeder meiner Wohnungen herumgestanden. Manchmal habe ich eine der CDs aufgelegt, aber immer festgestellt, dass „Barcarolle Fis-Dur op. 60“ oder ein „Allegro con brio“ am Allerbesten seine Wirkung entfaltet, wenn man die Klassik-CD schnell gegen eine Blumfeld- oder Sufjan-Stevens-CD tauscht. Schluss damit! In diesen Weihnachts­ferien höre ich den Klavier-Kaiser einmal komplett durch. Erst danach verlasse ich wieder die Wohnung. (tha)

RING DES NIBELUNGEN

Vier Opern, die man gehört und gesehen haben muss

15 Stunden Musik, wenn besonders langsam dirigiert wird, sogar eine halbe Stunde mehr: Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ ist nicht nur enorm suchterzeugend, sondern erfordert auch eine Menge Ausdauer. Nach Feierabend tief eintauchen in das Beziehungsgeflecht von Wotan und Fricka? In die Ränkespiele des listigen Loki? In Brünnhildes innere Zerrissenheit? Das schaffen nur die ganz Harten. Alle anderen sollten diese Herkules-Aufgabe mit Bedacht angehen und sich für jeden freien Tag einen Teil der Tetralogie vornehmen.

Zum Beispiel in der legendären Einspielung von Sir Georg Solti oder in der eher luftig-kammermusikalischen Version von Herbert von Karajan. Der totale Genuss: Beim Hören parallel das jeweilige Begleitbuch von Kurt Pahlen lesen. Da wird nicht nur der gesungene Text verständlich, es finden sich zudem für jede Szene ausführliche Erklärungen zum Inhalt und zu den Leitmotiven – von denen es mehr als 250 gibt. Ob Entsagungs- oder Erlösungsmotiv: Bei Wagner hat natürlich jede Note etwas zu bedeuten! So vorbereitet, kann dann die verbleibende freie Zeit perfekt für den „Ring“ auf Blu-ray genutzt werden. Zum Beispiel für die spektakuläre La-Fura-dels-Baus-Inszenierung aus Valencia. Dauert auch, aber nur ein Besuch in Bayreuth ist noch schöner. (hot)

EXTRADICKE ROMANE

Üppige Fülle in Wort und (Bühnen-)Bild

Ach, maßlos sind sie, diese Schriftsteller. Rund 90.000 Neuerscheinungen drängen Jahr für Jahr auf den Buchmarkt – aber die alten sind ja auch noch da, die werden doch nicht plötzlich schlecht, Bücher haben ja kein Verfallsdatum! Und keinen Maximalumfang. Die Titel werden länger, die Romane dicker. Für beide (zugegeben: gefühlte) Trends war in diesem Jahr „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ von Philipp Weiss ein schönes Beispiel: 1064 Seiten, fünf Bände, ein Schuber. Als Debüt! Aber es geht, zumal für den Leser, natürlich radikaler. Am allerbesten mit der Doppel-Dröhnung. Roman plus Theater – die totale Handlungsprasserei, gewissermaßen.

Herrlichste, üppigste Fülle. Etwa mit „Das achte Leben (Für Brilka“)“ von Nino Haratischwili: 1280 Seiten bei Ullstein, fünf Stunden am Thalia. Zum Schwelgen! Oder Tolstois „Anna Karenina“: 1288 Seiten bei Hanser, eine flotte Stunde und 45 Minuten am Schauspielhaus. Zum Lachen! Wer Blut leckt: Für „Die Stadt der Blinden“, mit 400 Seiten vergleichsweise schlank, bekam José Saramago 1998 den Nobelpreis. Im März ist deutschsprachige Erstaufführung am Schauspielhaus. (msch)

ZIERVOGEL-SCHAU

Irre Tintezeichnungen in großen Hallen

Selbst Deichtorhallen-Intendant Dirk Luckow staunte nicht schlecht bei der Eröffnungsfeier, als Ralf Ziervogel verkündete, „As If“ werde nicht nur seine größte, sondern auch seine letzte Ausstellung in Deutschland sein. Vielleicht ist es tatsächlich die letzte, auf jeden Fall aber ist die Schau in der Sammlung Falckenberg die beste Gelegenheit, das Werk des Berliner Ausnahmekünstlers ausgiebig zu betrachten, der unter anderem im New Yorker MoMA und in der Pinakothek der Moderne München ausgestellt wurde.

Die großzügigen Hallen auf drei Etagen bieten den idealen Rahmen für die 130 bis zu zehn Meter großen Papierarbeiten, auf denen Ziervogel menschliche Körper gepresst, gefesselt oder verknotet darstellt – filigran mit Tusche gezeichnet. Ihnen fügt er selbst verfasste Texte hinzu, sodass sich die Komposition wie ein Spinnennetz über die Bildfläche spannt und zu einem riesigen Ornament wird. Man ist gleichermaßen fasziniert und abgeschreckt von diesen (Gewalt-)Fantasien, die Ziervogels Ausdruck von Gesellschaftskritik sind. Noch bis zum 27. Januar läuft diese famose Ausstellung, ein Besuch ist nur nach Anmeldung (www.deichtorhallen.de/buchung) möglich. Die Hallen der Sammlung Falckenberg mit Muße zu durchschlendern, sich Zeit zu nehmen und das Erlebte nachwirken zu lassen, ist in dieser Schau besonders sinnvoll. (vfe)

RED DEAD REDEMPTION

Ein Videospiel, erzählt auf Romanniveau

Das Produktionsbudget aller drei „Herr der Ringe“-Filme soll bei 280 Millionen Dollar gelegen haben, und wenn man liest, dass das Videospiel „Red Dead Redemption 2“ noch teurer war, erkennt man, dass Zocken das neue Kino ist. Oder besser das neue Netflix. Schon der erste Teil des Westernspiels war 2010 ein Zeitfresser. Jetzt aber hat Entwickler Rockstar Games noch einmal einen draufgelegt. Eigentlich spielt man den Desperado Arthur Morgan, ein Mitglied der Bande von Dutch van der Linde.

Aber man kommt kaum dazu, mit den Jungs Postkutschen und Banken auszurauben, weil man damit beschäftigt ist, die wunderschöne Landschaft von schneebedeckten Hügeln bis zu schwülen Sümpfen zu bestaunen, sich mit seinem Pferd anzufreunden oder beim Barbier zu plaudern. Alles wird simuliert, vom Bartwuchs bis zum Regen, der auf dem Ledermantel langsam trocknet, wenn man einen Saloon betritt. Schon die Haupthandlung verschlingt viele Stunden, und hinter jedem Baum lauert Gefahr, Ablenkung oder Aufgabe, erzählt auf Romanniveau. Spiel mir das Lied vom Tod auf Xbox One und Playstation 4. (tl)