Hamburg. Am 12. Dezember feiert die Produktion „Planet Kigali“ Welturaufführung. Erarbeitet wird das Stück in Afrika von einer Hamburgerin.

Die Ruanda Arts Initiative ist ein so friedvoller Ort, dass sie fast wie ein Trugbild scheint. Malerisch schmiegt sich das Einfamilienhaus hinter roten Mauern inmitten eines tropischen Gartens an einen Berg Kigalis, der Hauptstadt Ruandas. „Land der tausend Hügel“ wird das ehemalige Deutsch-Ostafrika auch genannt. Sattgrün sind diese Hügel. Freundlich. Einladend. Die ehemalige Garage des Anwesens ist zum Probenraum umfunktioniert. Bühnenbildnerin Jelka Plate hat hellblauen PVC-Boden ausgelegt, auf dem sich die deutschen Tänzer Laura Böttinger, Frank Koenen und ihre afrikanischen Kollegen Eliane Umuhire, Evariste Kalinganire und Wesley Ruzibiza bei steigenden Temperaturen aufwärmen und ihre durchtrainierten Körper biegen und dehnen.

Yolanda Gutiérrez schaut zu. Gutiérrez ist Choreografin. Seit vielen Jahren lebt sie in Hamburg, ihr Name verrät die mexikanischen Wurzeln. Noch kämpft sie hier in Kigali mit der Tonanlage, aus der bald afrikanische Gesänge und hypnotische Sounds des Hamburger Musikers Andi Otto tönen und die Tanzenden buchstäblich elektrisieren.

Das Probenzentrum war einmal das Elternhaus des Tänzers, Autors und Schauspielers Dorcy Rugamba. Sein Vater Cyprien Rugamba, ein angesehener Intellektueller, Autor und Choreograf, hat im Süden des Landes seit den 1980er-Jahren das auch international renommierte Ballett Amasimbi n’Amakombe geleitet. In den 1990er-Jahren allerdings wurde der Tanz von der Politik als aristokratisch verteufelt. Als 1994 eine über Jahrzehnte aufgestachelte Hutu-Miliz innerhalb von nur 100 Tagen fast eine Million Menschen, der (als elitär geltenden) Tutsi-Minderheit zusammen mit gemäßigten Hutus ermordete, fiel dem auch Cyprien Rugamba zum Opfer.

Ungewöhnliches Tanztheaterprojekt

Die Vergangenheit ist für die Ruander noch immer ein sehr schattiges Gebiet. Auch deshalb ist es ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Tanztheaterprojekt, das hier entsteht: „Planet Kigali“ will zu seiner Welturaufführung am 12. Dezember auf Kampnagel die Vision einer gemeinsamen Zukunft aufzeigen. „Wir erforschen den Zusammenhang zwischen kollektiver und individueller Identität, die verschiedenen Schichten von Identität. Es gibt keine andere Wahl als nach dem Tabubruch des Völkermordes weiterzuleben“, erzählt der Hamburger Dramaturg Jens Dietrich.

Fast 25 Jahre nach dem Genozid wollen Dietrich, Gutiérrez und der heute in Belgien lebende Dorcy Rugamba nicht zurückschauen, nicht zurückkehren an die Orte der Finsternis und des Schmerzes, sie wollen von einer neuen Freiheit erzählen, von der Freiheit zu entscheiden, wer man sein will. Das hat auch mit Stolz zu tun. Und es hat damit zu tun, den noch immer kolonial geprägten Blick zu verändern und auf den Reichtum der eigenen Kultur zu lenken.

Heute ist der ethnische Konflikt gewissermaßen zwangsbefriedet. Es gibt nur noch Ruander. Die autoritäre Regierung verbreitet Aufbruchsstimmung, bei der eine dynamische junge, ehrgeizige Generation mitzieht. Das afrikanische Musterland hat allerdings seine Schattenseiten: Pressefreiheit gibt es nicht, die Opposition wird unterdrückt. Investoren aber schätzen Ruanda, weil es hier so sicher sei wie in der Schweiz und so sauber wie in Singapur. Einmal im Monat ist allgemeiner Putztag. Das hat noch immer etwas von deutscher Gründlichkeit, wie sie der deutsche Begründer Kigalis, der Arzt und Afrikaforscher Richard Kandt (1867–1918) einst verbreitet hatte.

Großer Kunst-Kosmos

Die bewaffneten Polizisten, die in Kigali jede Straßenecke säumen, erinnern daran, dass der äußere Friede vielleicht ein fragiler ist. Ihre bloße Präsenz sorgt dafür, dass auch die Tänzerinnen und Tänzer abends unbehelligt durch ihr Viertel streifen können. Mit dem Motorradtaxi natürlich. Weil man in Kigali immer einen Hügel hinunter und einen anderen wieder herauf muss.

Team Kigali: J. Dietrich, E. Kalinganire, Y. Gutiérrez und F. Koenen.
Team Kigali: J. Dietrich, E. Kalinganire, Y. Gutiérrez und F. Koenen. © HA | Annette Stiekele

Jens Dietrich bereiste Kigali schon vor einigen Jahren. Damals erarbeitete er mit Milo Rau und Dorcy Rugamba die bis heute tourende Theaterproduktion „Hate Radio“ (2011) über Hasspropaganda während des Genozids, die auch in Hamburg auf Kampnagel schwer beeindruckte. Jetzt geht es ihm darum, von Zukunft und Hoffnung zu erzählen. Und das soll über ein reines Tanzprojekt hinausgehen. Deshalb ist der „Planet Kigali“ auch als ein großer Kunst-Kosmos angelegt. Mit einem „Ruanda Arts Club“ samt Pop-up-Store, einer Modenschau, einem Filmprogramm und einem Club mit Housemusik.

„Wir wollen einen wirklichen Austausch an Kreativität, die hiesige Kunstszene einladen und involvieren“, erzählt Yolanda Gutiérrez. „Unser Blick richtet sich auf das Positive.“ Es ist ein lauer Abend am Ende eines langen Probentages. Die Theatermacher entspannen auf der Terrasse des „Hotel des Mille Collines“, legendärer Ort und Filmkulisse der Hollywoodproduktion „Ruanda Hotel“ (2004), der die – in der Realität nur teilweise – heldenhafte Geschichte eines Hoteldirektors erzählt, der über 1000 Menschen in den Wochen des Völkermords Zuflucht bot.

„Wiederkehr des immer Gleichen“

Dietrich, Gutierrez und Rugamba haben ihr großes, von der Bundeskulturstiftung großzügig gefördertes Projekt eineinhalb Jahre vorbereitet. In Ruanda gibt es keine Theater- oder Tanzbühnen. Natürlich auch keine staatliche Kulturförderung. Darum zeigt das Ensemble erste Szenen in einem Kulturzentrum über private Kontakte. Wie eine fürsorgliche Mutter wacht Yolanda Gutiérrez über das Wohlergehen ihrer Tänzerinnen und Tänzer. In den ersten Tagen der Probenphase mussten sich die Europäer an die neue Umgebung erst einmal gewöhnen. Die Höhe (Kigali liegt auf 1800 Metern) und grippale Infekte machten ihnen zu schaffen.

Der „Planet Kigali“ soll den Mythos von der „Wiederkehr des immer Gleichen“ (Nietzsche) und die Vorstellung eines unveränderlichen Afrikas (Hegel) durchbrechen. Den eurozentrischen Blick auf ein Afrika in ewiger Opferrolle durchbrechen. Vorbilder liefert die schwarze Emanzipationsbewegung der 1960er-Jahre mit Künstlern wie Jean-
Michel Basquiat oder Sängerinnen wie Grace Jones, oder auch der aktuelle Hollywood-Hit „Black Panther“ mit seiner Vision eines fortschrittlichen (als Dritte-Welt-Land getarnten) Heldenstaates, der so geheimnisvoll wirkt wie die grünen Hügel von Kigali.

„Das Team hat zwar eine unterschiedliche Herkunft, aber uns geht’s nicht darum, Afrikaner und Europäer zu sein. Unser Fokus liegt darauf, dass wir auf der Bühne eine neue gemeinsame Ästhetik entwickeln, eine Sprache, die überall verstanden wird“, so Dietrich. Auf der Bühne sind alle Kategorien von Mann und Frau, Europa und
Afrika aufgehoben. In Bewegung, Stolz, Sprache, Menschlichkeit. „Mir ist es wichtig, dass die Performer ihre eigenen Bewegungsabläufe einbringen“, erzählt Gutiérrez .

Laune im Team ist glänzend

Evariste Kalinganire, mit 55 Jahren der älteste der Truppe, tanzt seit seinem fünften Lebensjahr. Er war Teil von Cyprien Rugambas Ensemble, später des Ruandischen Nationalballetts und die Tradition hat sich tief eingeschrieben in seinen sehnigen Körper. Am nächsten Probentag bringt er dem jungen Hamburger Tänzer Frank Koenen einen traditionellen „Kwivuga“-Tanz, eine Selbstanpreisung, bei. Das ist für Koenen durchaus anspruchsvoll. „Wir machen ein Stück zwischen Ruanda und Deutschland über eine gemeinsame Zukunft, Respekt ist ein wichtiger Teil davon“, sagt Frank Koenen. Die meisten der traditionellen Tänze sind mit Kriegskunst verbunden.

Afrikanische und Hamburger Tänzer proben gemeinsam.
Afrikanische und Hamburger Tänzer proben gemeinsam. © Chris Schwagga

Die zarte Eliane Umuhire ist so etwas wie Ruandas größter Filmstar. Sie gewann bereits Preise auf internationalen Festivals und entdeckt in der Tanzbewegung neue künstlerische Seiten an sich selbst. „Für mich ist der Tanz, genau wie das Schauspiel, eine eigene Sprache“, sagt sie. Zwar kümmert sich in Ruanda keiner so recht um die Tänzer, vielleicht erblüht die Kunst auch deshalb heute in – relativer – Freiheit. Ohne Ideologie, wie sie die ersten kolonialen Mächte, zunächst die Deutschen von 1884 bis 1916, dann die Belgier von 1919 bis zur Unabhängigkeit 1962, geprägt haben. Und später die neokolonialen Mächte eines totalitären Regimes.

Es ist Mittagszeit in der Ruanda Arts Initiative. Ein Caterer bringt jeden Tag Terrinen und Teller mit Reis, Süßkartoffeln, Gemüse, frischer Ananas und Softdrinks. Gegessen wird auf der Terrasse. Die Laune im Team ist glänzend. Nach der Pause improvisieren die Berliner Tänzerin Laura Böttinger und Wesley Ruzibiza erst getrennt, dann gemeinsam. Die Szene funktioniert auf Anhieb verblüffend gut. Man vergisst, dass da zwei Tänzer aus zwei unterschiedlichen Welten mit ihren unterschiedlichen Körpersprachen auf der Bühne stehen. Sie ergänzen einander perfekt. Das Gestern spielt hier keine Rolle. Das Heute zählt. Und das Morgen. Der Abendhimmel färbt sich rot und leuchtet auf die Hügel Kigalis. Friedvoll in Erwartung des Kommenden.

„Planet Kigali“ 12. bis 16.12., jeweils 20.00, Kampnagel, Jarrestraße 20–24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de;


Die Reise wurde unterstützt von Kampnagel