Hamburg. Ein starkes Buch: „Mittagsstunde“ erzählt vom Land und wie es sich veränderte, mal melancholisch, mal heiter.
Früher, heißt es einmal in diesem Roman, haben die Bauern sich nach der Frühschicht im Stall und auf dem Feld nach dem Essen hingelegt. Mittagsstunde war, wenn das Dorf ruhte. Aber die Mittagsstunde verschwand irgendwann; schleichend, wie man so sagt. Nach der Flurbereinigung starben in den 70er-Jahren die kleinen Höfe. Es kamen die Kommunarden und Hippies aus Berlin und Hamburg, Zugezogene, die die Dorfgemeinschaft veränderten. Und noch viel später kamen die landlustigen Familien, die keinen Bock mehr auf die Großstadt hatten. Mit ihnen wurde der Tagesrhythmus des Dorfs ein anderer. Individueller.
Die Schriftstellerin Dörte Hansen veröffentlichte vor drei Jahren den Roman „Altes Land“. Er wurde der Hit der Saison und auch der der darauffolgenden. Bis heute verkaufte er sich mehr als eine halbe Million Mal. Sein Titel hatte auch jenseits von Hamburg einen ursprünglichen und im Zeitalter der neuen Heimat-Versuchung so anziehenden Klang. Altes Land, neue Lust. Da bekamen auch Anders- als Norddeutsche romantische Anwandlungen, was flache Ebenen und weite Horizonte angeht. Und Dörte Hansen, dieser ultranorddeutsche Name! Früher mal wohnhaft in Ottensen, dann im Alten Land, jetzt wieder in Nordfriesland, wo sie 1964 geboren wurde. Diese Dörte Hansen buchstabiert nun, in ihrem zweiten Roman, das Norddeutsche noch präziser durch als im Erstling. Der neue Roman heißt „Mittagsstunde“, er wird wahrlich nicht viele unter ihren Fans enttäuschen.
Eine Kraut-und-Rüben-Kindheit auf der Geest
Und schon gar nicht die, die noch über den gegenwärtigen Boom des Heimatromans hinaus spezifisch das Nordische lieben. Es dauert in diesem so extrem pointiert, wie es das in einem Werk der schönen Literatur noch statthaft ist, geschriebenen Roman nicht lange, ehe von „norddeutschem Schrägregen“ die Rede ist. Und bevor Hansen den Helden, den Historiker Ingwer Feddersen, überhaupt so richtig namentlich ins Spiel bringt, lässt sie ihn mit Blick auf eine seiner Studentinnen gedanklich über die Verwurzelung und Definitionsmacht von Namen räsonieren: „Er konnte solche Namen lesen wie Familienbücher oder Lebensläufe. Sünje Gregersen, so hieß nur jemand, der aus Nordwesten kam. Kreis Nordfriesland, Abitur in Niebüll oder Husum, vielleicht in Westerland, vielleicht in Wyk auf Föhr, aber er tippte mal auf Festland, Kraut-und-Rüben-Kindheit auf der Geest. Es klang für ihn nach einem Bauernhof auf einem Boden, der nichts taugte. Nach Kiefern, Flugsand. Ziemlich flach, aber nicht platt.“
Der Leser befindet sich mit Ingwer, dem Mann mitten in der Mittellebenskrise, im Auto auf der Fahrt von Kiel nach Brinkebüll, einem fiktiven Ort, der so wahr ist wie nur irgendeiner. Er hört Neil Young – das „Gewimmer dieses Mannes“ ist ihm „eine Stütze“ –, und es wird klar: Mit Ingwer werden wir auf den folgenden Seiten, deren kapitelweise Unterteilung jeweils unter Überschriften erfolgt, die aus Songtiteln von Young und anderen entlehnt sind, ein bisschen melancholisch leiden und ein bisschen leise lachen müssen. „Mittagsstunde“ ist mehr noch als ein Abgesang auf das Dorf, wie es früher war und nie mehr sein wird, und mehr noch als ein Versuch über das Vergehen der Zeit die hinreißende Geschichte eines Mannes, der endgültig Abschied nimmt, um neu aufzubrechen.
Emotionaler Protagonist
Nicht nur Namen allein, sondern mit ihnen die Menschen, die sie tragen, sind verwurzelt in der Gegend, aus der sie stammen. Ein nicht allein analytischer, sondern auch emotionaler Protagonist wie der Wissenschaftler Ingwer blickt mit Wärme auf die Geest. „Das hier war Altmoränenland, es hatte ewig unter Gletschereis gelegen, es war geschliffen und verschrammt, das bisschen Wind und Regen machte ihm nichts aus“, heißt es im zweiten, makellosen Kapitel, aus dem auch weiter oben schon zitiert wurde.
Ingwer Feddersen ist der Sohn von Marret, der Verschrobenen, die Flora und Fauna mag, die die Störche vermisst, sie kommen nicht mehr. Deswegen warnt die junge Frau, die in ihren Klapperlatschen durchs Dorf stiefelt, ihr Dorf: vorm Weltuntergang. Marret ist die Tochter von Ella und Sönke, die ein Wirtshaus betreiben und nebenbei einen Hof. Oder umgekehrt. Aber, um genau zu sein, biologisch ist die als verrückt geltende Marret lediglich Ellas Tochter. Sönke war ein später Kriegsheimkehrer, unklare Verwandtschaftsverhältnisse sind in Brinkebüll keine Seltenheit. Dörte Hansen erzählt auf zwei Zeitebenen von den Geschehnissen. Vom ebenjenem Anfang der 70er, als Marret den Untergang prophezeit. Als die Landvermesser und Flurbereiniger kommen. Einer von ihnen zeugt mit Marret Ingwer und wird danach nie mehr gesehen. „Mittagspause“ ist ein scheinbar ungerührt auf Provinz und Dörfler schauender Roman, der gerade dadurch zur manchmal erst recht anrührenden Angelegenheit wird.
Ausgelassen wird nichts, und schon gar nicht, wie schwer es vor noch nicht so langer Zeit war, ein vaterloses Kind im Haus zu haben. In der Gegenwart, der zweiten Erzählebene, ist Ingwer zurück ins Dorf gekommen, um seine Zieheltern Ella und Sönke zu pflegen und deren 70. Hochzeitstag zu feiern. Alles auf Anfang, bloß weg aus Kiel, wo er in einer unglücklichen Dreierkonstellation lebt, wo die albernen Großstädter sich als Plattdeutschliebhaber („Ich find die so nett, diese Sprache! So urig, irgendwie“) outen: Hansen kann immer noch bissig spotten. „Mittagsstunde“ ist ein grandios gelungener, ein immer wieder heiterer Roman, ein Buch über den Mann in der Krise, über das Herauswachsen aus dem Dorf und das Ausbluten des Dorfs, aller Dörfer, im Osten, Süden, Westen und im Norden.