Hamburg. Dušan David Parízek glänzt mit „Vor Sonnenaufgang“. Grandios wird geliebt, geküsst und politisch gestritten.

    Ein offener, loftartiger, gleichwohl düsterer Wohnraum. Hinten die Küche, in der Mitte ein überdachter Aufenthaltsraum, dahinter eine Treppe ins Nichts. Bewohnt wird der Raum von den Krauses, einer Familie im freien Fall. In Dušan David Pařízeks Regie- und Bühnenarbeit „Vor Sonnenaufgang“ vom Wiener Akademietheater, der Studiobühne des Burgtheaters, das jetzt anlässlich des Hamburger Theaterfestivalsauf Kampnagel gastierte, stimmen surreale Bühne und Inhalt beängstigend überein.

    Und man mag über den Sinn von Klassikerüberschreibungen streiten, die Aneignung des Milieudramas ist dem Autor Ewald Palmetshofer geglückt. Aus dem Stoff über eine vom Alkohol degenerierte, wohlhabende Bauernfamilie macht er eine radikale Studie über die Gräben der Gegenwart und die Endlichkeit.

    Start wie ambitionierter Boulevard

    Es beginnt wie ambitionierter Boulevard. Man kocht, isst, trinkt, parliert einigermaßen höflich. Doch schon bald weicht der schöne Schein tiefem Seelenelend. Zwei alte Studienfreunde begegnen sich nach Jahren wieder. Frühere gemeinsame Ideale sind politischen Gegensätzen gewichen: Thomas ist nun ein zynischer, rechter Geschäftsmann, aalglatt gespielt von Markus Meyer. Immer in Bademantel oder Handtuch, aber mit Sektflasche auf der Hand.

    Seine schwangere Frau Martha, eine der Krause-Töchter, kämpft mit Dämonen der Düsternis. Der von Michael Maertens gespielte Studienfreund Alfred ist inzwischen linker „Gesinnungsjournalist“ mit bindungslosem Lebensentwurf. Und wie Maertens diesen Zweifelnden, Zaudernden mit einem erstaunlichen Minimalismus ausstattet, der unmerklich in eine laute Schwermut ausbricht, ist wirklich sensationell.

    Fantastische Besetzung

    Dass in dieser Familie Krause nicht alles zum Besten steht, erkennt Alfred bald. Der in zweiter Ehe verheiratete Vater, Michael Abendroth, ersäuft sein Unglück im Alkohol. Seine neue Frau Annemarie, schillernd und sehr menschlich gespielt von Dörte Lyssewski, ist porös von der Desillusionierung des Ehelebens und dem vergeblichen Kampf um die Liebe der Stieftöchter. Stefanie Dvoraks raubeinige Martha wird wie die tote Mutter von „schwarzen Hunden“ heimgesucht, die jüngere Helene ist bei der expressiv verzweifelten Marie-Luise Stockinger mittellos und einsam. Wie die junge Helene Ausweg, Halt und Erfüllung bei dem verdrucksten Alfred sucht, zählt zu den vielen großen Momenten des Abends.

    Palmetshofer, Pařízek und die fantastische Besetzung zeichnen jede Figur vielschichtig. Furios wird da geliebt, geküsst und politisch gestritten. Ein Glücksfall für das Theater. Leider kam die Tonverstärkung in den hinteren Reihen nicht an, weshalb einige Besucher das Theater über die knarzenden Treppen verließen. Ihnen entging ein Höhepunkt des Gastspielreigens.

    Hamburger Theaterfestival läuft bis 28.11., weitere Infos und Karten online unter www.hamburger-theaterfestival.de