Hamburg. Feministische Porno-Ästhetik, ein neuer Lenz-Film, ein bizarres Brasilien – die cineastischen Perlen zeigen sich abseits vom Gedränge.


Warum tut man sich das an? Filmfest Hamburg, das heißt Gedränge, Wichtigtuertum, unbefriedigende Reden der eingeladenen Künstler, „Thank you, Hamburg, so happy to be here“. Das macht man nicht wegen des Horror-Starvehikels „Halloween“, auch nicht wegen der neuen Folgen der TV-Produktion „Der Tatortreiniger“. Sondern man geht in die Nebenreihen, man sucht Perlen im Festivalstress.

Man findet: „Sol Alegría“, nachmittags im kleinen Abaton-Kino. Als „wahrscheinlich verrücktesten Film des Jahres“ kündigt Kurator Roger Alan Koza den Film an, er hat recht: Tavinho und Mariah Teixeira haben einen Bilderrausch gedreht, der Gewalt mit Humor und Erotik mixt. Gezeigt wird ein Brasilien, in dem korrupte Klerikalfaschisten die Macht übernommen haben, während eine Revolutionärsfamilie den Widerstand plant, mittels Sex, Rausch und Kunst. „Sie können uns alles nehmen, nur unsere Lust nicht“, wird in einem oppositionellen Kloster postuliert, tief im Amazonas-Urwald, wo die Nonnen eine Marihuana-Zucht aufgezogen haben, und das ist so abgedreht, wie es klingt. Allerdings: Angesichts des Rechtsrutsches, der sich aktuell in der brasilianischen Politik andeutet, könnte es sein, dass die beschriebenen Zustände gar nicht allzu weit entfernt sind.

Eine Hamburgensie: Lenz-Verfilmung

Vor dem Cinemaxx belagern Fotografen einen Asiaten mittleren Alters. Ein Star? Vielleicht Mamoro Hosoda, der Regisseur des Anime „Mirai – Das Mädchen aus der Zukunft“? Fast, es ist der Produzent, aber Glamour-Atmosphäre kommt dennoch auf. „Mirai“ entpuppt sich als kluge, realistisch animierte Familiengeschichte, die einerseits das für Studio-Chizu-Produktionen typische Niedlichkeitsschema bedient, andererseits aber heutige Fragen verhandelt, die in Japan so aktuell sind wie in Hamburg. Erzählt wird von einer Kleinfamilie, die ein zweites Kind bekommt – das Erstgeborene muss damit klarkommen, dass sich nicht mehr alles um ihn dreht. Eifersucht ist ebenso Thema wie familiäre Überforderung und sich auflösende Rollenbilder, das ist für ein vordergründig als Kinderfilm daherkommendes Werk eine Leistung.

Auch eine Hamburgensie wurde im Cinemaxx gezeigt: die letzte von drei Lenz-Verfilmungen des ZDF. Wieder Ina Weisse als Hauptdarstellerin, sie spielt in „Der Anfang von etwas“ die Meteorologin Anne, deren Ehemann Harry (Juergen Maurer) angeblich bei einem Schiffsuntergang ums Leben gekommen ist. Seine Leiche wurde nie gefunden. Nun mehren sich rätselhafte Ereignisse. Der Film basiert auf einer Kurzgeschichte aus dem Jahr 1958, die für den Film „angereichert“ wurde und nicht mehr besonders viel mit der Vorlage zu tun hat. Viele schöne Hamburg-Bilder dominieren über einen manchmal vorhersehbaren Handlungsverlauf. Ins Studiokino dann ist kaum ein Durchkommen – die Bernstorffstraße ist praktisch blockiert durch das Viva-La-Bernie-Solikonzert mit Jan Delay und Fettes Brot. Drängeln lohnt aber: Im Studio läuft der argentinische Erotikfilm „Die feurigen Schwestern“, der sich als künstlerisch eindrucksvolle Studie über weibliche Sexualität entpuppt.

Ein Frauenpaar reist durch Feuerland und nimmt auf seiner Fahrt immer weitere Frauen mit. Und je weiter sich die Zivilisation entfernt, desto utopischer, märchenhafter und sinnlicher wird die Reise. Formal sucht Regisseurin Albertina Carri nach einer feministischen Porno-Ästhetik und findet: Humor, expliziten Sex, Subversion, den Bruch mit Körpernormierungen. „Die feurigen Schwestern“ ist mindestens so lustig wie lustvoll.

Und genau wegen solcher Filme tut man sich das an.