Hamburg. Zehntägiges Festival beginnt mit isländischem Drama “Gegen den Strom“. Zahlreiche Schauspieler auf dem roten Teppich.

Mehr als 130 Filme aus 57 Ländern in 34 Sprachen – das ist nicht nur ein üppiges Kinoangebot, das ist in Zeiten zunehmender Nationalisierung auch ein politisches Zeichen. „Es wird in diesen Tagen viel über eine offene, eine pluralistische Gesellschaft gesprochen“, sagte Festivaldirektor Albert Wiederspiel zur Eröffnung des diesjährigen Hamburger Filmfests im Cinemaxx Dammtor am Donnerstagabend. „Mein Wunsch ist es, dass wir weniger darüber reden, sondern diese Vielfalt miteinander leben.“ Keine Frage – das Filmfest trägt eindeutig seinen Teil dazu bei.

Starke Frauenfigur

Schon im hinreißenden Eröffnungsfilm „Gegen den Strom“ (der deutsche Titel ist hier origineller als die internationale Version „Woman at War“) entscheidet sich eine Hauptfigur aus der Mitte der Gesellschaft gegen die Lethargie. Geradezu umwerfend halsstarrig spielt die isländische Schauspielerin Halldóra Geirharðsdóttir diese Halla, die persönliche Grenzen – und solche des Gesetzes – unbeugsam ignoriert. Eine sehnige, freundliche Chorleiterin mit Kinderwunsch, die in ihrer Freizeit als Jeanne d’Arc der Ökologie durch die archaische isländische Natur turnt. Mit Pfeil und Bogen sorgt sie für großräumige Stromausfälle, sabotiert die Industrie und erlegt, wenn es sein muss, dabei eigenhändig eine Aufklärungsdrohne.

Skurriler Witz im Eröffnungsfilm

Als „Komödie“ ist dieser Film, der im Dezember regulär in die Kinos kommt, angekündigt – und tatsächlich besticht er durch skurrilen Witz und eigenwilliges Personal. Er ist aber viel mehr als ein schrulliger Unterhaltungsexport. Er ist poetisch, melancholisch und legt bewusst den Finger in zahlreiche Wunden. Wie Regisseur Benedikt Erlingsson die überwältigenden Landschaftsaufnahmen seiner ursprünglichen Heimat mit den globalen Auswirkungen des Klimawandels verwebt, das ist so sinnlich wie clever: Schaut her, was ihr aufs Spiel setzt. Immer wieder legt sich Halla, die Amazone im Islandstrick, auf das weiche Moos, als spüre sie dem Herzschlag der Natur nach.

Die Musik verstärkt das Ganze nicht einfach als Tonspur. Die Musiker mit Tuba, Akkordeon oder Schlagwerk, die folkloristischen Sängerinnen in ihrer Tracht, sie alle sind hier Teil der schroffen Landschaft, Teil einer universellen Sprache, die sich jeder Kinogemeinschaft auch außerhalb von Reykjavík direkt vermittelt.

"Am besten, man geht ins Kino!"

„Worüber soll man reden, wenn die Welt so unverständlich und geradezu beängstigend geworden ist, dass man keine Worte mehr findet …?“, hatte Albert Wiederspiel sein Premierenpublikum zur Begrüßung rhetorisch gefragt und ihm gleich selbst die Antwort geliefert: „Am besten, man geht ins Kino!“ Auch Wiederspiel gibt sich nicht der Illusion hin, dass Filme Probleme lösen könnten, und seien sie noch so engagiert. „Das wäre zu viel verlangt. Aber Filme können, meiner Meinung nach, besser und wirksamer als die meisten anderen Kunstformen auf Missstände der Welt aufmerksam machen. Vielleicht schaffen wir es, durch unser Programm, die Aufmerksamkeit unserer Zuschauer auf diesen fiebrigen Zustand der Welt zu lotsen.“

Das Filmfest Hamburg und sein Weltkino jedenfalls „passen gut zum weltoffenen und toleranten Selbstverständnis unserer Stadt“, glaubt auch Hamburgs Erster Bürgermeister, der an dieser Stelle sein Debüt als Grußwortredner gab. Immer wieder ermögliche es die Kultur den Menschen, so Peter Tschentscher, „jenseits gewohnter Sichtweisen ins Gespräch zu kommen“.

Acht-Stunden-Doku und Film über Berlusconi

Bis zum 6. Oktober wird das Festival nun ebendies unter Beweis stellen. Es wird Filme über Silvio Berlusconi geben und über selektive Erinnerung, über Machtmissbrauch und Sex. Sechs Weltpremieren, 29 Debüts sowie 36 Filme von Regisseurinnen und Regisseuren, die schon in früheren Jahren hier zu Gast waren. Der ausuferndste Beitrag zum Programm dürfte Wang Bings Acht-Stunden-Doku „Dead Souls“ über die Umerziehungslager in Maos China sein. Den Douglas-Sirk-Preis erhält der Iraner Jafar Panahi in Abwesenheit.

Jamie Lee Curtis zum Festival erwartet

Der Glamour soll, auch das gehört natürlich zu einem erfolgreichen Festival, trotz ernsthafter Themen nicht zu kurz kommen. Erwartet werden, während heute parallel die Dreharbeiten zur Hollywood-Produktion „Drei Engel für Charlie“ auch in der Elbphilharmonie beginnen, unter anderem die US-Schauspielerin Jamie Lee Curtis und der dänische Regisseur Bille August. Zum Auftakt liefen Karoline Eichhorn und Peter Lohmeyer über den roten Teppich, ebenso Bernd Begemann (der für das musikalische Rahmenprogramm sorgte), Sibel Kekilli, Gustav Peter Wöhler, Hark Bohm und NDR-Intendant Lutz Marmor.

Sie alle saßen bereits im Saal, als Albert Wiederspiel seine Rede mit einer persönlichen Bemerkung schloss: „Ich wohne seit 33 Jahren in diesem Land und ich habe zu keiner Zeit meine jüdische Identität verheimlicht. Ich war noch nie Opfer eines antisemitischen Angriffs. Weder verbaler noch physischer Art. Und ich hoffe eindringlich, dass es auch so bleibt!“