Hamburg. Beim Reeperbahn Festival sind im Minutentakt Entdeckungen zu machen. Am besten ist es, sich im Strom der Musik treiben zu lassen.

Sollte sich das Reeperbahn Festival irgendwann aus irrsinnigen Gründen dazu entschließen, sich einen neuen, nerdig-hippen Namen zu geben, also so etwas wie „c/o pop“ in Köln oder „SXSW“ in Austin, dann würden wir „FOMO“ vorschlagen. Das steht für das Phänomen „Fear of missing out“, die zwanghafte Angst, etwas zu verpassen. „Das führt zu einer ständigen inneren Unruhe, zu einem Hetzen von Ereignis zu Ereignis. Häufig ist ein ständiger Blick auf die Uhr zu beobachten und die Sorge, man könnte woanders etwas versäumen“, schreibt der US-Psychologe Dan Ariely dazu. Das Reeperbahn Festival wäre für ihn wohl wie gemacht für eine Feldstudie.

Wer seit Mittwoch und bis Sonnabend zwischen Nobistor und Millerntor, zwischen St. Pauli Kirche und St. Pauli Fanshop unterwegs ist, hat gleichzeitig Dutzende Konzerte, aber auch Angebote aus Kunst, Film und Literatur zur Auswahl. Wähle eins, verpasse 20. Da hilft nur, die alte Regel für Konzertfotografen anzuwenden: „Drei Songs, kein Blitz“. Jede Band hat drei Songs Zeit, und wenn der Funke nicht zündet, geht es weiter die Reeperbahn entlang. Durch das Gewusel von Tausenden Kiezbummlern, Festivalbesuchern, Irgendwas-mit-Musik-Branchenvertretern und Hamburger Künstlern aller Couleur, die vielleicht nur zufällig wie 187-Strassenbande-Rapper Gzuz am Kiosk abhängen, wie Sänger Johannes Oerding vor dem Sommersalon einen heben oder wie Beginner-DJ Mad vor dem Mojo Club die Füße ausruhen.

Wiedergeborener Jim Morrison

Nach drei Songs der französisch-kanadischen Band Theo Lawrence & The Hearts ist klar: Diese Jungs sind auch für sechs Songs gut. Sehr, sehr gut. Sänger Theo klingt wie ein wiedergeborener Jim Morrison, der allerdings sein Herz für Country Marke Johnny Cash oder Willie Nelson entdeckt hat. Musik, die einen spüren lässt, wie der Schweiß ersten Flugrost auf die Gitarrensaiten absetzt. Die Festival-App vibriert mit Meldungen, welche vorher markierten Bands in 15 Minuten auf die Bühne gehen. Schnauze! Ich will das hier sehen!

Der Donnerstag ist auch der „Keychange“-Tag. Diverse Workshops und Diskussionen drehen sich um die Initiative von bislang 125 internationalen Musikfestivals und -Konferenzen, bis 2022 ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis im Programm zu präsentieren und generell die männlich geprägten Strukturen im Popgeschäft endlich aufzubrechen. Beim Reeperbahn Festival sind dieses Jahr bereits 40 Prozent der Beteiligten Frauen, eine davon ist Grace Carter aus London, die im Mojo Club eleganten R ’n’ B und Soul-Pop zwischen Nina Simone und Adele präsentiert. Im Docks singt die Norwegerin Sigrid ihren Hit „Don’t Kill My Vibe“ und zeigt das Potenzial, ein Star zu werden. Das ist der Geist des Festivals: Die Bon Ivers und Ed Sheerans von morgen schon heute auf dem Kiez sehen.

Auch Philipp Poisel mit von der Partie

Aber auch Stadien füllende Giganten sind dieses Jahr auf St. Pauli zu erleben. Noch während Sigrid auf der Bühne steht, knallt über dem Docks Feuerwerk, und ein Funken-Schriftzug enthüllt den Namen des Überraschungsgastes, der Freitagnacht dort spielen wird: Muse. Das Progressive-Rock-Trio aus London veröffentlicht im November das neue Album „Simulation Theory“ und will die neuen Songs im kleinen Rahmen vorstellen.

Bereits am Donnerstag gab der Stuttgarter Pop-Romantiker Philipp Poisel, auch schon ein Künstler für große Hallen, ein Spontankonzert im Uebel & Gefährlich und erinnerte an seinen ersten Auftritt beim Reeperbahn Festival vor zehn Jahren. Damals trat er vor einer Handvoll Neugieriger im Schmidts Tivoli auf. Aber jetzt Muse, das ist schon eine Hausnummer.

Man kann nichts falsch machen

Also haben viele Reeper-Fans am Freitagabend die Wahl: Stelle ich mich stundenlang im Sturm und Regen (das Open-Air-Programm auf dem Spielbudenplatz wurde sogar unterbrochen) vor dem Docks an und behaupte während der Auftritte von Disastar und Matt Gresham meinen Platz, verpasse aber Bands wie Graveyard und Dizzy, Rapperin Ace Tee oder den für den Festival-Preis nominierten Soul-Songwriter Tiwayo? Oder tanze ich lieber auf „Kreuzbergs Scherben“ zum Berliner Vorwärtsrock von Vizediktator im Gruen­span oder zum Tarantino-Pop von The Courettes in der Nochtwache – und verpasse Muse im Docks?

Das Phänomen „FOMO“ soll laut Dan Ariely irgendwann zum Verlust der Fähigkeit führen, Erlebnisse überhaupt zu genießen. Aber beim Reeperbahn Festival ist das Gegenteil der Fall. Man kann zwar vieles verpassen, aber eigentlich nichts falsch machen.